Text von Aude Bertrand-Höttcke

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DURCH RAUM
UND ZEIT.

Normalerweise gilt: Großer Einsatz = große Wirkung. Wer Veränderungen in einer Organisation herbeiführen will, weiß, dass die Mittel dafür nicht zu knapp sein dürfen — und der Atem nicht zu kurz. Aber kann es nicht sein, dass auch ein minimaler Einsatz — von nur einer Person in einem riesigen Unternehmen ­— zu einer massiven produktiven Betriebsstörung führen kann?

Der britische Konzeptkünstler John Latham  war in den 60er Jahren davon überzeugt, dass es – da Raum und Zeit eine Einheit bilden – nicht nur kleinste Teilchen auf der subatomaren Ebene geben müsse, son­dern auch so etwas wie kleinste Zeiteinheiten. Er entwarf eine Zeit-Kunst-Philosophie, in der er im kleinstmöglich denkbaren Ereignis – dem least event – das größte Potential für Veränderungen sah. Latham und die Konzeptkünstlerin Barbara Steveni waren – parallel zu ihren Versuchen der Übertragung von Zeit auf Leinwand oder Papier – von der Idee be­seelt, dass ein minimales künstlerisches Eindringen in Zeitgeschehnisse und Pro­zesse, etwa die einer Organisation, große Auswirkungen haben kann.

MINIMALE EINWIRKUNG MIT GROSSEN AUSWIRKUNGEN.

So entstand 1966 die Londoner Artist Placement Group (APG). Von ihr wurden Künstler*innen als incidental person(s) in organisationalen Kontexten platziert. Allerdings nicht, um objekthafte Werke zu schaffen, sondern um Neuerkenntnisse anzustoßen. Als Sandkörner im Getriebe sollten Künstler tiefgründige Veränderungen innerhalb der Organisation herbei­führen. So etwa bei der Neugestaltung des Arbeitsumfelds oder von Arbeitsprozessen. Die Künstler*innen wurden dafür wie Angestellte vergütet. Ihr Arbeitsauftrag: Irritation. Um dadurch ein Umdenken anzure­gen – mit großem Erfolg. 1988 hatte der Zeitgeist die APG eingeholt. Die Gruppe fand so viele Nachahmer (allen voran staatssubventionierte Artist-in-Residence Programme), dass sie sich auflöste und in ein loses interdisziplinäres Reflexions-Netzwerk umwandelte (u.a. mit Politolog*innen und Geisteswissenschaftler*­innen). Nicht zuletzt ist auch das geplante neue Artist-in-Residence Programm des Zentrums Studium fundamentale auf die Idee der Artist Placement Group zurückzuführen!

Beitrag von R. Buschmann in diesem Heft, S. 71

Der britische Autor David Lodge hat die exemplarische Geschichte einer solchen Intervention einer Kunstwissenschaftlerin in die krisengeschüttelte Industrieproduktion in England in seinem preisgekrön­ten und wirklich unterhaltsamen Roman “Nice Work” (1988) beschrieben.

David Lodge: “Nice Work” (1988) en.wikipedia.org/wiki/Nice_Work

WAS KANN MAN DARAUS ÜBER DAS LERNEN LERNEN?

Dass auch einzelne Individuen bei der Neubetrachtung und Transformation von komplexen Gegen-ständen wie Organisationen etwas bewirken können – vorausgesetzt, sie bringen die passende Haltung mit und sind imstande, Möglichkeiten und Potentiale an-derer Denk- und Handlungsweisen auszutesten und zu vermitteln.

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3 KUNST MACHT SCHULE.