… zwischen Kontingenz und Intransparenz in der aufziehenden Netzwerkgesellschaft

„Freiheit als Quelle der Angst“
Søren Kierkegaard beschrieb die Angst als einen Schwindel der Freiheit. Daraus lässt sich folgern, dass Freiheiten zu Orientierungsverlust führen können. Über die Zeit – kontinuierlich ‚angestachelt‘ durch furchterregende Ereignisse – kann Angst entstehen, die nicht zum freiheitlichen Handeln und Entscheiden aktiviert, sondern wie eine ‚dunkle Spirale‘ zur Passivität und Apathie führt. Historisch lassen sich unterschiedliche Angstqualitäten differenzieren, die sich allerdings nicht ablösen, sondern abhängig von der gesellschaftlichen Komplexität einer Steigerungslogik folgen. Bis heute erzeugt und absorbiert die Religion Transzendenzangst, die (Sozial-/Gesundheits-)Politik Existenzangst oder die Kultur Exklusionsangst. Aber in keiner Gesellschaftsepoche ist der angsttypische ‚Schwindel der Freiheit‘ so weitreichend und intensiv wie in der gegenwärtigen Hypermoderne. Hier ist der Anspruch an eine unbedingte Freiheit ubiquitär: Selbstentfaltung, Spontanität, Kreativität, Authentizität und Innovativität sind Heilsversprechen für soziale Geltung und Erfolg. Das Faible für Innovationen verflüssigt überall und mit hohem Tempo das Bestehende, formt es neu aus oder löst es gänzlich auf. Die Angst der Gegenwart bezieht sich unmittelbar auf eine Freiheit, die die absichernden Verlässlichkeiten der Lebenswelt infrage stellt und zunehmend aushöhlt. Sie ist eng verbunden mit der Beschleunigung sozialer Dynamiken und dezentraler Konsensfindungen für Entscheidungen sowie mit hochgradig flexiblen und lernaffinen Strukturen.

Netze als Gestaltwandler im Umgang mit Kontingenz
Die Strukturformation des Netzwerks erscheint hier hochgradig leistungsfähig. Es ist ein Strukturhybrid zwischen strikt gekoppelten Formalstrukturen (vor allem von Organisationen) und auf Dauer ausgelegten Institutionen und dynamischen Anforderungen an Problemverarbeitungen. Dies bedeutet aber zugleich, dass bestimmte Perspektiven, Erwartungen, Handlungen, Entscheidungen oder Begründungen so oder auch anders möglich werden. Es existiert kein archimedischer Punkt als normatives (und nachhaltiges) Fundament, sondern bloß dynamische Änderungsrezepte, die als normative Rettungsanker nur für ein Thema und uno actu Orientierung und Sicherheit bieten. Netze sind amöbenartig und deshalb sehr anpassungsfähig – sie sind Gestaltwandler im Umgang mit Kontingenz! Insofern sind Netzwerke zugleich Ursache und Folge eines Kausalitätsnebels: Lernfähig, dezentral und flexibel suchen sie plausible Begründungen für unbestimmte Ursachen oder Wirkungen und testen hierfür Konsensmöglichkeiten, verdichten aber zugleich den aufziehenden Nebel durch intransparente Dynamiken. Netzwerke befördern demnach zugleich Freiheiten und intensiv erlebte und erfahrene Unsicherheiten, deren Angstqualität in der Hypermoderne als Kontingenzangst begriffen werden kann.
Durch die einseitige Betonung der Kontingenz lassen sich die zugleich mit besonderer politischer Vehemenz eingeforderten Absicherungen nicht überzeugend verwirklichen. Der Kritiküberschuss wird auf die Spitze getrieben, weil sich keine tragfähigen Begründungen mehr finden lassen, die Akzeptanz schlicht voraussetzen können. Die gegenwärtige digitale Transformation scheint eine Lösung für die hypermodernen Ambivalenzen bereitzuhalten: Algorithmen verarbeiten massenhaft Daten und schaff en neue Geschäftsfelder, um soziale Dynamiken zu verstehen und ihre Verläufe sogar zu prognostizieren, um den Kausalitätsnebel zu lichten, damit der verlorene Anspruch an Steuerung und Kontrolle sozialer Dynamiken wieder plausibel gemacht werden kann. Es manifestiert sich eine Kultur der Digitalität, die sich vor allem als Algorithmizität beschreiben lässt: Technische Netzwerke von Algorithmen werden gegen den Kausalitätsnebel eingesetzt, um Korrelationen problemrelevanter Ursachen und Wirkungen sichtbar zu machen und zu synchronisieren. Der Trend zur Netzwerkbildung setzt sich demnach fort, wird aber durch algorithmische Aktoren in sozio-technische Netze erweitert. ‚Big data‘ über die Ursachen und Wirkungen des Klimawandels ist hierbei genauso möglich wie die Rekonstruktion von Erwartungen, Meinungen und Interessen in politischen Diskursen sowie Änderungen des Geschmacks im Konsum von Unterhaltungsgütern der Kulturindustrie. Damit wird der Übergang zur Netzwerkgesellschaft vollzogen. Die Algorithmen (als Agenten) erhellen den Kausalitätsnebel im Auftrag von Unternehmen oder staatlichen Behörden, die hieran Interessen und hierfür Ressourcen haben. Für einzelne wirtschaftliche und politische Motive können sie eine ungeahnte Transparenz im Kausalitätsnebel schaffen. Die soziotechnischen Netze einer aufziehenden Netzwerkgesellschaft fragmentieren und granulieren Ereignisse, Objekte und Individuen und konstruieren sie von Moment zu Moment neu. Für diejenigen, für die diese technischen Netze weder sichtbar und gestaltbar noch nutzbar sind, weil sie hieran kein Interesse und hierfür keine Ressourcen (im weitesten Sinne) haben, herrscht Intransparenz darüber, welche ihrer Daten durch wen und mit welchen Folgen erhoben und im Netz verarbeitet werden. Die Vorgänge entziehen sich sowohl der individuellen als auch kollektiven – vor allem institutionellen – Kontrolle.

Intransparenzangst ist die neue Angst der aufziehenden Netzwerkgesellschaft
Mit der Intransparenzangst zeigt sich eine neue Angstqualität der aufziehenden Netzwerkgesellschaft, die sich auf die Kontingenzangst ‚aufsattelt‘ und den hypermodernen Kritiküberschuss in einem Kontrollüberschuss überführt.
Eines haben die netzwerkfördernde Hypermoderne der Gegenwart und eine netzwerkfixierte ‚Next Society‘ der Zukunft gemeinsam: die hohe Bedeutung von Neuheiten. Eingebettet in einer omnipräsenten Innovationssemantik werden Netzwerke in der gegenwärtigen Hypermoderne eingesetzt, um (vor allem wachstumsorientierte) Leistungen (Techniken, Produkte, Dienstleistungen, Problemlösungen) zu steigern. Insofern wird der hegemoniale Modus des ‚Neuen‘ für neue Potenziale und gegen bestehende, normativ gefestigte Strukturen und Institutionen instrumentell (disruptiv, eruptiv) genutzt. Demgegenüber geht mit den Neuheiten in der digitalisierten Netzwerkgesellschaft ein Potenzial begrenzender Gegenmacht einher. Automatisierte und damit standardisierte Datenverarbeitung über Algorithmen im Dienst bestimmter Netzakteure kann durch überraschende Abweichungen stark irritiert werden. Mit anderen Worten: die programmierten Sinnanschlüsse lassen sich durch Unvorhersehbares punktuell und momenthaft unterbrechen. Dann funktioniert die Technik nicht. Sie wird sichtbar und politisierbar.

Counterinnovation als Kunst des Politischen
Der neue zivilgesellschaftliche Protest in der Netzwerkgesellschaft wird also auf die sozio-technischen Netzwerken innovativ einwirken, um verloren geglaubte Souveränität über Konflikte zu steigern und damit letztlich die politische Vitalität zu reaktivieren, um der apathischen Intransparenzangst entfliehen zu können!

Dirk Baecker: 4.0 oder Die Lücke die der Rechner lässt. Leipzig: Merve 2018

 Manuel Castells: The Rise of the Network Society. Oxford: Blackwell 2010

 Max Dehne: Soziologie der Angst. Wiesbaden: VS 2016

JENS LANFER

Dr. Jens Lanfer ist Junior-Professor in Politischer Theorie. Weitere Forschungsschwerpunkte sind die Soziologische Theorie sowie die Politikfeld- und Policy-Analyse. Seine aktuellen Forschungsgebiete sind ‚Angst in der Gegenwart und der nächsten Gesellschaft‘, ‚Transformation der Energiepolitik durch (grünen) Wasserstoff ‘, ‚Zeit und politische Legitimationsdynamiken‘ sowie ‚Governance-Regime und Algorithmen‘. Jens Lanfer und Alexander Schwitteck bereiten gegenwärtig mehrere Publikationen zur Unsicherheit und Angst in der digitalen Transformation vor.

ALEXANDER SCHWITTECK, B.A.

Alexander Schwitteck studierte Philosophie, Politik und Ökonomik an der UW/H. Zu seinem Forschungsschwerpunkt gehören insbesondere die politische uns soziologische Theorie und Ideengeschichte. Derzeit arbeitet er in der Kommunikationsabteilung eines deutschen DAX-Unternehmens im Bereich Public & Government Affairs und wird im Herbst 2021 sein Master-Studium der Political Theory an der London School of Economics and Political Science aufnehmen.