NETWORK ART - DER WILLE ZUR ELEKTRONISCHEN VERNETZUNG

„Die Welt in 24 Stunden“, so lautete der verheißungsvolle Titel eines telematischen Kunstprojektes von Robert Adrian X im Jahr 1982, als vom World Wide Web längst noch nicht die Rede war. Vier Jahrzehnte später ist es zur Normalität geworden, dass wir „die Welt“ über ein flächendeckendes Geflecht von Webseiten und Apps in Sekundenbruchteilen erreichen können. Erst recht seitdem das Smartphone mit der Funktionalität eines Kleincomputers ausgestattet ist und ständige Konnektivität garantiert, verbindet uns das WWW mit diesem universellen Informations- und Kommunikationsraum und seiner unüberschaubaren Menge an spezialisierten Netzwerken. Sich in digitalen Netzwerken zu bewegen und aktiv zu sein, gehört mit großer Selbstverständlichkeit zu unserem Alltag und scheint wahrlich keine Kunst zu sein. Doch schauen wir zurück auf die Anfänge der Telematik um 1980, waren es gerade Künstler*innen, die sich den Innovationen im Telekommunikationsbereich bedient haben und zu Vordenker*innen von netzwerkbasiertem Arbeiten wurden.

Text von Renate Buschmann

1980: ARTEX – ARTIST’S ELECTRONIC EXCHANGE NETWORK
Auf der Ars Electronica wurden enorme technische Anstrengungen unternommen, um Künstler*innen am Festivalort Linz während des Projekts „Die Welt in 24 Stunden“ simultan mit 15 Städten weltweit zu verbinden.¹ Verwendet wurden dabei nur die neuesten Telekommunikationssysteme wie Telefax, Slow-Scan-TV (ein Vorläufer des Bildtelefons) und – allem voran – das von den Künstlern Robert Adrian X und Bill Bartlett 1980 initiierte Artist’s Electronic Exchange Network (ARTEX). Für die meisten Festivalbesucher*innen lagen solche technischen Verbindungen im Bereich des Science-Fiction. Die Relevanz von ARTEX ist heute nur zu verstehen, wenn man sich bewusstmacht, dass zu jenem Zeitpunkt der Datenaustausch über das Internet nur militärischen und wenigen universitären Einrichtungen vorbehalten war. Die Öffnung des Internets für private Nutzer*innen war noch nicht einmal vorhersehbar. Als erstes Computer-Mailbox-Programm für Künstler*innen war ARTEX in seiner Absicht, Künstler*innen am neuen telekommunikativen Möglichkeitsraum teilhaben zu lassen, eine echte Pionierleistung, auch wenn sie nur einen kleinen Kreis von medienaffinen Künstler*innen betraf, die über Universitäten und Medienkollektive Zugang zu Computernetzwerken besaßen.

1983: ERSTES KOOPERATIVES SCHREIBPROJEKT IM NETZ
In Anlehnung an Marshall McLuhans Diktum „The Medium is the Message“ beinhaltete schon der Aufbau eines Netzwerks für Künstler*innen die Botschaft, dass alle Teilnehmenden als gleichberechtigte Agierende und alle individuellen Äußerungen als Teil einer kollektiven Komposition anzuerkennen seien. Roy Ascott rief 1983 über ARTEX zum ersten kooperativen Schreibprojekt im Netz auf, bei dem an 14 Knotenpunkten Teilnehmer*innen über drei Wochen ein collagenhaftes Märchen schrieben und unter dem Titel „La Plissure du Texte“ (Die Faltung des Textes) veröffentlichten.² In der Internationalität und Diversität der Akteur*innen sah Ascott den Gewinn solcher Unternehmungen: „Die schöpferische Verwendung von Netzwerken macht diese zu Organismen. Telematik ist ein dezentralisiertes Medium; ihre Metapher ist die eines Gewebes oder Netzes, in dem es kein Zentrum gibt, keine Hierarchie, kein Oben und kein Unten.“³

1984: ELECTRONIC CAFÉ NETWORK
Für Künstler*innen waren Netzwerktechnologien in den 1980er Jahren der Schlüssel zum sogenannten „elektronischen Raum“, in dem sich alternative Formen von Kommunikation und Interaktivität, – ohne Rücksicht auf geografische Distanzen und institutionelle Normen nehmen zu müssen, verwirklichen ließen. Das „Electronic Café Network“ vom Künstlerduo Kit Galloway und Sherrie Rabinowitz, 1984 in Los Angeles realisiert, war ein solches Pilotprojekt.⁴ Vier Schnellimbiss-Restaurants wurden umfangreich mit Bild-, Ton- und Video-Übertragungsgeräten ausgerüstet und bildeten zusammen mit einer weiteren multimedialen Station im Museum of Contemporary Art ein urbanes Intranet. Dem elektronischen Raum fiel nun die Aufgabe zu, anstelle der örtlichen Distanz die soziale Distanz zwischen seinen Besucher*innen zu überbrücken. Der Netzwerkgedanke war auf das Publikum ausgedehnt und sollte zur Verständigung zwischen kulturellen Milieus innerhalb des Stadtgebiets beitragen, indem via Intranet Begegnungen von Personen begünstigt wurden, die im urbanen Umfeld nicht dazu bereit gewesen wären. Cafés waren für Künstler*innen seit jeher Keimzellen des Netzwerkens, in denen sie Zeit verbrachten, um den intellektuellen Austausch mit Gleichgesinnten zu pflegen und sich auf das Kennenlernen von Zufälligem einzulassen. Schon für den Literaten Stefan Zweig war das Kaffeehaus „eine Art demokratischer, jedem für eine billige Schale Kaffee zugänglicher Klub, wo jeder Gast für diesen kleinen Obolus stundenlang sitzen, diskutieren, schreiben, Karten spielen, seine Post empfangen und vor allem eine unbegrenzte Zahl von Zeitungen und Zeitschriften konsumieren kann“. Jahrzehnte später und in einer neuen technologischen Ära boten die kommerziellen Internetcafés der 2000er Jahre mit dem „Internetsurfen“ ihren Gästen vergleichbare Dienste an.

1990ER: ELECTRONIC CAFÉ INTERNATIONAL
Das künstlerische Konzept des „Electronic Café International“ (ECI) wurde von Galloway und Rabinowitz’ ab 1989 international verbreitet und basierte auf der Kombination von Kaffeebetrieb mit brandneuen Telekommunikationstechnologien. Künstler*innen-Teams bauten solche temporären Laboratorien des ECI auf, um über Länder- und Kontinentgrenzen hinweg mit Gleichgesinnten in Kontakt zu kommen, Gemeinsamkeiten herauszufinden und kollektive Aktionen anzustoßen. Sich an unterschiedlichen Orten aufzuhalten und dennoch simultan kollaborative Konzert-, Klang-, Tanz-, Schreib-, Zeichen-, Video- und Computerprojekte durchführen zu können, war der Reiz des neuentdeckten virtuellen Raums. Diese Initiativen verlangten ein Großaufgebot an kostspieliger Hard- und Software und waren zuerst an feste Stationen gebunden. Um 1992 entwarf eine Kölner Künstler*innengruppe zusammen mit der Agentur 235 Media einen mobilen Pavillon, in dem das ECI auf der documenta 9 in Kassel sowie 1993 auf der Biennale Venedig und im Kölner Mediapark seine Arbeit aufnahm.⁵ Networking an sich wurde zu einem künstlerischen Wert und rief Bezeichnungen wie Network Art und Telekommunikationskunst hervor.
Technisch haben wir die damals ambitionierten Projekte seit langem überholt; das Bedeutende an ihnen bleibt jedoch, dass sie dem Bedürfnis nach internationaler Vernetzung von Künstler*innen folgten und die Wirkkraft von technischen Netzwerken für die künstlerische Praxis erkannten. Heute brauchen wir weder „elektronische Cafés“ noch Internetcafés; es reicht das Mobiltelefon für den Eintritt in Online-Communities. Vernetzung ist für jeden eine Selbstverständlichkeit. Die Künstler*innengeneration der Digital Natives macht sich nun die Mechanismen virtueller Areale wie Instagram, YouTube und Co. zu eigen, um ihre Kunst zu verbreiten und nicht zuletzt um dort kritische Akzente zu setzen.

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Ars Electronica Blog 2015
ars.electronica.art/aeblog/de/2015/02/21/robert-adrian-x-turns-80

Telematic Connections: The Virtual Embrace 1983/2001
telematic.walkerart.org/timeline/timeline_ascott.html

Zitiert nach Jürgen Claus: Das elektronische Bauhaus. Gestaltung mit Umwelt
Zürich/Osnabrück: Edition Interfrom 1987, S. 58f

A Manifesto for the Original 1984
Electronic Cafe Network Project
ecafe.com/museum/about_festo/84manifesto.html

Renate Buschmann / Jessica Nitsche (Herausgeberin):
Video Visionen. Die Medienkunstagentur
235 Media als Alternative im Kunstmarkt
Bielefeld: Transcript 2020, S. 209-244

RENATE BUSCHMANN

Prof. Dr. Renate Buschmann ist seit 2020 Professorin für Digitale Kunst und Kulturvermittlung im WittenLab Zukunftslabor Studium fundamentale. Sie beschäftigt sich in ihren Studien nicht nur mit heutiger digitaler Kunst, sondern auch mit Künstler*innen-Projekten, die technische Netzwerke zum Gegenstand ihrer Arbeit machten, als das Internet für die meisten noch ein unbekanntes Aktionsfeld war.