Verbindungen schaffen, die man sonst nicht sieht. An das Leben erinnern und Einblicke in die Vergangenheit geben. Neue Formen des Zusammenlebens erproben. Neue Bezüge zwischen Zeit, Raum und Form finden. All dies tun die im Folgenden ausgewählten Künstler*innen mit Netzen. Von ihnen können wir lernen, unverbundene Tatsachen zu kombinieren, Vernunft und Gefühlen Raum zu geben, und mit neuen Verbindungsmöglichkeiten zu experimentieren.

MARK LOMBARDI: VISUALISIERUNG VON BEZIEHUNGEN

In einer scheinbar transparenten Welt gilt es, dennoch unsichtbare Zusammenhänge sichtbar zu machen. Deshalb widmete sich der amerikanischen Künstler Mark Lombardi (gest. 2000) den politischen Intrigen auf höchster Ebene. Sein Wissen stammte aber nicht aus Akten einschlägiger Behörden. Eher im Gegenteil: Alles, was er in seinen großformatigen Zeichnungen visualisierte, ist für Jeden zugänglich – in Büchern, Nachrichten, Zeitungen und im Internet. Was macht seine Arbeiten also so außergewöhnlich? Indem Lombardi allgemein verfügbare Informationsbruchstücke in einen Zusammenhang brachte, führt er uns den Missbrauch von Macht vor Augen. In seiner großformatigen Arbeit „BCCI-ICIC & FAB, 1972-91 (4th Version)“ stellte er den Finanzskandal um die in Waffenhandel, Drogenschmuggel und Geldwäsche verwickelte Bank of Credit and Commerce International von 1991 dar. In dem Kunstwerk werden die Verbindungen zwischen der Finanzwelt und dem internationalen Terrorismus zu einem Muster aus Bögen und Linien. Lombardi selbst nannte seine Zeichnungen „narrative Strukturen“, denn sie waren sein Ausdrucksmittel, um all die Informationen für sich zu einem sinnvollen Ganzem, wie für eine Geschichte, zu ordnen. Er fand schnell heraus, wie wichtig Archive sind, denn sie zwingen den Benutzenden, die Informationen nach Kriterien zu sortieren. So entstanden Arbeiten, die die grafische Wirkung eines Gemäldes haben, dabei aber den methodischen Regeln einer historischen Erzählung, sogar im wissenschaftlichen Sinne, folgen. Lombardi brachte dabei die losen Enden nicht zusammen, interpretierte nicht. Ihm ging es um das Beobachten, ohne zu bewerten. Indem er die Kontingenzen, Ambiguitäten und Brüche sichtbar machte, öffnete er nicht nur durch das bloße Aufzeigen von Verbindungen den Betrachter*innen die Augen, sondern eröffnete ihnen auch Wege eigener sinnstiftender Deutungen, die entsprechende Zukunftsgestaltungen erst ermöglichen.

CHIHARU SHIOTA: FESTHALTEN AN ERINNERUNGEN

Die japanische Künstlerin Chiharu Shiota lässt sich durch Orte und Dinge und die ihnen innewohnenden Geschichten inspirieren. Typisch für ihre Rauminstallationen sind schwarze, rote oder weiße Wollfäden. Schwarz symbolisiert den Nachthimmel und den Kosmos, Rot visualisiert menschliche Beziehungen und menschliches Leben, während Weiß – in Japan die Farbe der Trauer – für Reinheit steht. In ihre Installationen fließen Überlegungen über historische, aktuelle und soziale Konnotationen der verwendeten Elemente ein, die sie schließlich in ein ästhetisches Gesamtkunstwerk verwebt. In der Arbeit „Beyond Time“ geht es ebenfalls um Erinnerung, um das Abwesende. Inspiriert vom leeren Raum einer Kapelle aus dem 18. Jahrhundert im Skulpturenpark von Yorkshire, wo einst (Gedenk)Gottesdienste, Taufen und Hochzeiten stattfanden, nahm die Künstlerin die Vergangenheit auf und wob sie in weiße Fäden. Die Arbeit soll den Betrachter an das Leben erinnern, das die Kapelle einst erfüllte, und gibt einen Einblick in die Vergangenheit. Das Klavier, das auch in „Beyond Time“ eine zentrale Stelle inne hat, ist bei Shiota ein immer wiederkehrendes Motiv, das seinen Ursprung in ihrer Kindheit in Japan hat. Das Haus ihres Nachbarn brannte ab und nur das halb zerstörte Klavier blieb übrig. Funktionslos geworden, trug es für Shiota noch immer die Erinnerungen an den Klang in sich. Die Umrisse des Klaviers in der Installation verweisen auf die Musik, die einst in der Kapelle gespielt wurde. Ausgehend von dem stillen Piano sind weiße Wollfäden gespannt, die in ihrem Inneren Kopien von den Gedenkgottesdienstreden, Konzertprogrammen und Partituren festhalten. Es ist die Erinnerung an den Klang der nicht mehr existierenden Orgel, an die Gemeinschaft beim Gebet und das Gefühl des Verlustes, die diese Installation prägt.

TOMÁS SARACENO: ERPROBUNG EINES NACHHALTIGEN ZUSAMMENLEBENS IN DER ZUKUNFT

An den Grenzen von Kunst und Wissenschaft untersucht Tomás Saraceno verschiedene Spinnennetze und nutzt die Ergebnisse für seine neue, hybride Form der Kommunikation. Für die Spinne ist ihr Netz ein Sinnesorgan, mit der sie ihre Welt fühlt. Diese materielle Erweiterung der eigenen Sinne macht besonders die Netzbautechnik für ihn interessant. Netze stehen für Saraceno aber auch für das menschliche Sozialverhalten und gesellschaftliche Verbundenheit. Ständig setzt er sich mit dem aktuellen Zustand des kollektiven Lebens auseinander und erprobt neue Formen des Zusammenlebens. Dabei nimmt er auf Erkenntnisse aus der Biologie, der Chemie, der Aeronautik, der Physik und der Materialwissenschaft besondere Rücksicht. Auch für die 2.500 qm große, dreischichtige (luftgefüllte riesige PVC-Bälle halten die Schichten auseinander) Netzkonstruktion „In Orbit“ arbeitete er mit Architekten, Ingenieuren und Biologen zusammen. Die Installation stellt ein großes Netzwerk der Kommunikation dar. Die sich in dem Netz bewegenden Menschen lösen Schwingungen aus, welche die anderen darin wahrnehmen. Wie Spinnen erfühlen die Menschen darin ihre Umwelt und es entsteht ein neues Miteinander. „In Orbit“ ist mit seinen in der Luft schwebenden aufblasbaren Biosphären ein weiteres spekulatives Modell für Saracenos Überlegungen zu alternativen, nachhaltigen und utopischen Lebensweisen.

JORINDE VOIGT: VERSUCH DER SYSTEMATISIERUNG EINER KOMPLEXEN WELT

Jorinde Voigt untersucht unterschiedliche Ereignisse – wie etwa den Flug eines Adlers oder den Kuss zweier Menschen – im Hinblick auf deren Bezug zu Zeit, Raum, Geschwindigkeit und Form. Die Frequenzen der Ereignisse übersetzt sie in Linien, Zahlen, Klammern und Pfeile, welche sie in den großformatigen Zeichnungen nach einer bestimmten Systematik anordnet. Die Ereignisse dienen als Knoten. Diese Knoten werden durch stromlinienförmige Geraden zueinander in Verbindung gesetzt. Korrespondierend zu den Ereignissen finden sich auf den Geraden individuelle Angaben wie Geschwindigkeit, räumliche Distanz, zeitliche Abfolge und Dauer. So entsteht ein Netzwerk von gleichzeitig existierenden Handlungen und Subjekten, das in ein ästhetisches Ordnungssystem überführt wird. Die Subjekte treten in den Arbeiten nicht auf, nur die Handlung wird in den Zeichnungen in der Zeit eingefroren und bleibt so sichtbar. In „2 küssen sich“ ist die Dauer des Kusses und der zeitliche Abstand zum nächsten Kuss beschrieben. Die Aktionen sind teils als unendliche, teils endliche Aktionen vorhanden. Mittels der Fibonaccifolge visualisiert sie die unendliche Folge des Kusses. Der erste Kuss dauert eine Minute mit einer einminütigen, der nächste Kuss dauert zwei Minuten gefolgt von einer dreiminütigen Pause etc. Aus der Dauer des Kusses ergeben sich die Anzahl der folgenden Paare. Wir sehen so die Zahlenfolge 0, 1, 1, 2, 3, 5 und so weiter. Null und eins sind vorgegeben, jede weitere Zahl ergibt sich aus der Summe der beiden Vorgängerzahlen. Bei endlichen Aktionsmustern werden die Zahlenreihen gegeneinander gezählt. Dauert der erste Kuss 10 Minuten mit einminütiger und der zweite Kuss neun Minuten mit zweiminütiger Pause und so weiter, dann ergibt sich eine Zahlenreihe von 10-1, 09-02 etc. Die Kussdauer bestimmt auch hier die Paaranzahl. Getrieben von großer Neugierde möchte Voigt ein Thema verstehen und sichtbar machen. Dafür analysiert sie einzelne Frequenzen und überführt sie in die eigene Schriftsprache.

BRITTA KOCH

Britta Koch, M.A., studierte Kunstgeschichte, Wirtschaft und Germanistik an der Ruhr-Universität-Bochum und ist Referentin im WittenLab Zukunftslabor Studium fundamentale (AT).

Britta Koch stärkt durch ihre guten Kontakte in die lokale Kunst- und Kulturszene die Verbindung der UW/H mit der Unistadt Witten.