Mit den Leuten: Transformatives Lernen ändert mich und den Gegenstand

FOTO UW/H, JÜRGEN APPELHANS
Text von Dirk Baecker

Transformatives Lernen ändert nicht nur den Lernenden, sondern auch den Gegenstand, über den und mit dem etwas gelernt wird. Man begibt sich ins Feld, erarbeitet Memoranden, Konzepte, Strategien und Pläne mit den Leuten im Feld und korrigiert laufend nicht nur die eigenen Annahmen, sondern auch die mitgebrachten Theorien und Methoden. Statisches Lernen ist ungenügend, da der Gegenstand schon lange nicht mehr stillhält und weil das Lernen im Gegenstand und mit den Leuten lehrreicher ist als alles andere. Transformatives Lernen ist Lernen dritter Ordnung: Lernen über den Gegenstand, Lernen über das Lernen und Lernen über mich, den Lernenden. Das heißt nicht, dass ich alle überlieferten Denkmuster über Bord werfen muss. Im Gegenteil. 

Unter Umständen entdecke ich, dass mir gerade die raffiniertesten Modelle des Nachdenkens über Politik und Wirtschaft, Gott und die Welt bisher entgangen sind, weil ich mich zwar mir ihnen auseinandergesetzt habe, aber nichts über mich gelernt habe. Aber es heißt, dass die beliebten Denkmodelle des Objektivismus in weite Ferne rücken, weil ich mich selber aus der Sache nicht mehr heraushalten kann. Die Sache wird subjektiv. Sie liegt sich selber zugrunde. Es geht darum, herauszufinden, dass und wie dies der Fall sein kann. Man könnte auch sagen, dass das transformative Lernen die Gesellschaft in jedem Sachverhalt entdeckt. Dass wir ihn betrachten und wie wir ihn betrachten, ist selbst dann, wenn es sich um ein Quark, ein Molekül, die Zelle eines Organismus, die Anatomie eines Gehirns oder den Verlauf einer Krankheit handelt, eine Frage der Gesellschaft, die gelernt hat, mit diesen Dingen umzugehen. 

Transformatives Lernen rechnet die Gesellschaft in die Dinge hinein, rechnet sie wieder heraus und schaut, ob etwas übrig bleibt. Der Prozess ist hierbei entscheidend. Wenn man das mit den Leuten macht, kann man sicher sein, dass sich etwas ändert. Wir lernen etwas über unser Denken, in dem wir sehr viel weniger Herr im Haus sind, als das wir gerne hätten. Und wir treffen andere Entscheidungen, weil wir die Bedingungsgeflechte anders durchschauen, in denen jeder Sachverhalt steht. „Durchschauen“ ist vermutlich noch ein zu großes Wort. Wir entdecken Zipfel der Komplexität, fangen aber an, auch mit dem Rest zu rechnen.

ICH LADE EIN ZU EINER KLEINEN REFLEXION:

Man traut es sich kaum zu sagen, aber das mit dem Lernen ist ja so eine Sache. Man verändert sich. Man weiß hinterher etwas, was man vorher nicht wusste. Und da es sich um Wissen handelt, muss man es begrüßen. Man kann nicht sagen, dass man dies lieber nicht gelernt hätte, obwohl das angesichts von Einsichten, die Erwartungen enttäuschen, doch häufig der Fall ist. Außerdem wird man, wenn man lernt, zu einem Lernenden. Auch das darf man nicht wirklich ablehnen, schon gar nicht in einem schulischen oder universitären Zusammenhang absichtsvoller Erziehung. Aber auch das hat seine Schattenseiten. Wer lernt, befindet sich permanent in einem defizitären Zustand. Man weiß noch nicht und kann noch nicht, was man erst noch lernen muss. 

Und kaum hat man etwas gelernt, stolz auf die eigene Leistung, stellt sich die nächste Aufgabe. Wie lange hält man das aus? Warum hält man es überhaupt aus? Überschattet der Stolz alles andere? Aber der Stolz, Vorsicht, ist auch nichts anderes als das Wissen um die eigenen, wenn auch überwundenen Defizite im positiven Gewand. Mit Stolz hängt man erst recht am Haken. Hatte man es mit Schule, Universität und der einen oder anderen überraschenden Erfahrung im Verlauf seines Lebens mit überschaubaren Zumutungen zu tun, so verlängert die Idee des lebenslangen Lernens diese Zumutung bis ans Lebensende. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass dies toxische Wirkungen auf Gemüt und Verstand hat. Die Idee der Bildung soll dieses Gift neutralisieren. Aber auch damit mache ich mich dauerhaft abhängig von Fremdeinschätzungen meines Bildungsstands. Muss ich Hochschullehrer werden, um aus diesem Dilemma herauszukommen und wieder mein eigenes Maßstab werden zu können?

„Wer lernt, befindet sich permanent in einem defizitären Zustand. Man weiß noch nicht und kann noch nicht, was man erst noch lernen muss.“

An die Ambivalenz des Lernens ist zu erinnern, wenn es in einem weiteren Sinne um transformatives Lernen gehen soll. Im Kontext transformativer Forschung und transformativer Wissenschaft bedeutet transformatives Lernen nicht mehr Transformation der Lernenden, sondern Transformation des Gegenstands. Man identifiziert einen Ausgangszustand und überlegt sich ein Verfahren, mit dem es gelingen kann, den Ausgangszustand in einen Endzustand zu verwandeln, der mit dem Ausgangszustand nicht identisch ist. Ich muss dies so tautologisch formulieren, um die verschiedenen Momente dieses Prozesses unterstreichen zu können. Wer definiert den Ausgangszustand, wer den Endzustand und wer das Verfahren? Und was macht währenddessen der Gegenstand? Ist er mit diesen Definitionen einverstanden? Hält er still, während das Verfahren auf ihn angewandt wird? Oder besteht die Gefahr, vielleicht auch das Risiko, dass er sich während des Verfahrens so verändert, dass der Ausgangszustand neu interpretiert werden muss und der Endzustand nicht mehr erreicht werden kann? Die Gefahr, weil ich nicht weiß, was unterdessen alles passieren kann? Das Risiko, weil das transformierende Lernen selber die Ursache für die Veränderung der Voraussetzungen des Lernens ist?

„Transformatives Lernen befreit von den toxischen Effekten des Lernenmüssens und Lernenwollens.“

Transformatives Lernen ist ein Lernen, das sich diesen Verwicklungen stellt. Es ist prozessual und systemisch, das heißt es korrigiert sich laufend selber und es rechnet mit Zusammenhängen, die sich erst im Laufe des Prozesses erschließen. Dazu zählen nicht zuletzt die Grenzen des Gegenstands. Wo fängt er an, wo hört er auf? Wer legt sie fest?
Transformatives Lernen ist ein Lernen, das sich unter diesen Bedingungen einmischt. Es sucht praktische Aufgabenstellungen und praktische Erfahrungen. Man sucht den Kontakt mit Behörden, Unternehmen, Parteien, kulturellen Einrichtungen und Einrichtungen der Zivilgesellschaft und arbeitet an deren Problemen. Transformatives Lernen findet auf beiden Seiten statt, im Gegenstand in der Form einer bestimmten Praxis und im Seminar unter allen beteiligten Studierenden. Zugleich wird die Situation in gewisser Weise entzerrt. Man stellt sich nicht seine Defizite zur Verfügung, das ungelöste Problem auf Seiten der Praxis und das Nichtwissen auf Seiten der Studierenden, sondern man stellt sich seine Fähigkeiten zur Verfügung, das Verständnis im Gegenstand für das eigene Problem auf der einen Seite und die methodischen und theoretischen Zugänge, die dieses Problem aus einer anderen Perspektive zu beleuchten vermögen, auf der anderen Seite. Alle Beteiligten sind gleichermaßen Lernende und Lehrende, auch wenn jeder weiß, dass man unter Umständen gerade erst gelernt hat, was man im nächsten Moment „belehrend“ der Situation zur Verfügung stellt. Tatsächlich handelt es sich jedoch noch nicht einmal um ein Belehren, sondern um ein Erproben.
Transformatives Lernen befreit von den toxischen Effekten des Lernenmüssens und Lernenwollens. Ähnlich wie in der Pädagogik nach Johann Heinrich Pestalozzi oder Maria Montessori ist die Aufgabenstellung nicht, sich selber, sondern eine Situation zu verändern. Alle Beteiligten sind daher nicht mit ihren Defiziten, sondern mit ihren Fähigkeiten gefragt. Mit einer soziologischen Unterscheidung könnte man sagen, dass man durch transformatives Lernen nicht erzogen, sondern sozialisiert wird. Erziehung setzt immer die Absicht eines Erziehers voraus. Das fällt unangenehm auf, begründet eine asymmetrische Beziehung und plaziert die Lernenden in einer Situation des Ungenügens. Sozialisation hingegen passiert nebenbei. Sie ist der Kollateralnutzen einer Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, der Wirklichkeit einer praktischen Aufgabenstellung, aber auch der Wirklichkeit eines theoretisch und methodisch angeleiteten Perspektivenwechsels. 
Trotzdem bleibt es bei einer Defizitkommunikation. Die Praxis hat ein Problem und nichts garantiert, dass Schule, Universität und Wissenschaft geeignet sind, sich mit diesem Problem fruchtbar auseinanderzusetzen. Aber auch damit sind personale Attributionen vom Tisch und man kann sich mit einer Sache beschäftigen, die, wie jeder sehen kann, von der Art und Weise, wie alle Beteiligten sich auf sie einlassen, nicht unterschieden werden kann. 

„Die Praxis hat ein Problem und nichts garantiert, dass Schule, Universität und Wissenschaft geeignet sind, sich mit diesem Problem fruchtbar auseinanderzusetzen.“