Von Netzwerken und der Netzwerkgesellschaft sind die meisten, affirmativ oder in kritischer Perspektive, überzeugt, um nicht zu sagen: überwältigt. Da wird es Zeit, an eine Bemerkung Julian Barnes’ zu erinnern, dem wir ein ziemlich witziges Buch verdanken, „Flauberts Papagei“ (1984). Barnes hat darin anlässlich einer Annäherung an die Biografie Flauberts folgendes zu bedenken gegeben:

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Ein Netz können Sie auf zwei Arten definieren, je nach Ihrem Standpunkt. Normalerweise würden Sie sagen, daß es ein Gerät mit Maschen ist, das zum Fischfang dient. Sie könnten aber auch, ohne groben Verstoß gegen die Logik, das Bild umkehren und ein Netz so definieren … : eine Ansammlung zusammengeschnürter Löcher. Mit einer Biographie können Sie dasselbe tun. Das Schleppnetz füllt sich, dann holt der Biograph es ein, sortiert, wirft zurück, lagert, filetiert und verkauft. Doch bedenken Sie, was er nicht fängt: das überwiegt immer.
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Dasselbe können Sie auch mit der Geschichte und Theorie der Netzwerke tun – und überhaupt mit Theorien aller Art. Das ist zunächst so wenig ein Mangel der Theorien, wie Löcher ein Mangel von Netzen sind. Theorien sind notwendigerweise selektiv. Aber, aber… Durch die Löcher der hartleibigeren ökonomischen Theorien zum Beispiel geht alles, was jenseits von Nutzen und Nutzenorientierung liegt. So etwas wie Gaben, die nicht um einer Gegengabe willen gegeben werden, nicht im Wege eines do ut des, nicht auf einen Nutzen schielend, nicht im Wege eines Tauschs, kann man dann nicht sehen und nicht behandeln. Großzügiges Schenken ist dann ein No-Go. Selbst Weihnachtsgeschenke kann man dann nur als verkappten Tausch oder als etwas Irrationales behandeln.
Und was geht durch die Maschen der Netzwerktheorien? Das ist einfach, wenn auch ein bisschen seltsam: Netzwerktheorien sollen ja Netze einfangen. Netze, soziale Netze und besonders auch Unternehmungsnetzwerke, sind ihre fette Beute. Wie diese Netze funktionieren, welche Vor- und Nachteile sie haben, welche Stärken und Schwächen: das ist Sache der Netzwerktheorien. Das ist es, was die Theorien einholen, sortieren, filetieren und verkaufen. Notwendigerweise geht durch die Maschen einer Netzwerkgeschichtsschreibung und -theorie alles, was nicht – überhaupt nicht – Netzwerk ist: alle Akteur*innen, die sich nicht zu sozialen und gar Unternehmungsnetzwerken zusammentun (können). Die keinen Zugang dazu, also zu den dadurch zu erlangenden Informationen, Ressourcen und Machtpositionen haben, neudeutsch: access. Kein Vitamin B. Keine Arbeit. Keine Teilhabe. Keine Stimme. Nicht nur für die Gesellschaft, auch für die Gesellschaftstheorie, auch die Netzwerktheorie, sind sie schwer zu sehen und zu hören. „Denn die einen sind im Dunkeln. Und die anderen sind im Licht. Und man sieht nur die im Lichte. Die im Dunkeln sieht man nicht.“ Aber nicht nur die, die draußen bleiben, auch diejenigen innerhalb so mancher Unternehmungsnetzwerke, innerhalb, aber an ihren dunkleren Rändern, sieht man erst, wenn das Netz der Netzwerktheorien engmaschiger geknüpft wird, von kritischen Fischerinnen und Fischern. Denken Sie nur an Unternehmensnetzwerke in Gestalt von Zulieferketten, bei denen die einen nicht wissen (und nicht wissen wollen), was die anderen – an den Rändern, in Bhopal, in Shenzen, im Rana Plaza und anderswo – tun und lassen (und tun und lassen sollen). Lesen Sie mal die Beiträge von Elke Schüssler.
Wenn sich aber solche Theorien, wie so oft, vor allem in ökonomischen Netzwerktheorien, hauptsächlich um den Nutzen von Netzwerken drehen, um ihre Effizienz, am Ende um Tauschgewinne für die Netzwerkmitglieder, dann gehen auch Gabennetzwerke allzu leicht durch die Maschen der Theorie (oder sie werden als Tauschnetzwerke missverstanden). Auf meinem Schreibtisch liegt ein wunderschönes Buch von Bill Hess, Gift of the Whales. Es handelt vom Walfang der Iñupiat und davon, was diese Natives in Alaska mit ihrer Beute seit Jahrtausenden machen: Sie verkaufen sie nicht. Die Walfänger behalten einen Teil für sich und geben das übrige Walfleisch weg. Sie teilen es, nicht nur mit denen, die geholfen haben, den Wal zu fangen und an Land zu bringen – jedes Mal eine große Gemeinschaftsaktion, die festlich begangen wird –, sondern mit den umliegenden Wahlfangdörfer, aber auch solchen „Native communities“, die nicht vom Walfang leben, Freund*innen, Verwandten, Studierenden und Soldat*innen in ganz Alaska. Das alles kann man unter Nützlichkeitsgesichtspunkten betrachten. Man kann aber auch, wie Bill Hess, die Kultur von Gabennetzwerken darin sehen, geleitet von der Überzeugung, dass Wohlstand und Status mehr davon bestimmt werden, was man Anderen gibt, als davon, was man einbehält und hat. Leute ohne access, ohne Stimme, und Netzwerke, die nicht in erster Linie aus Tauschakten geknüpft sind, sondern aus sharing: Bedenken Sie, was das Theorienetz nicht fängt.

Julian Barnes: Flauberts Papagei. Köln: KIWI 2012

Bill Hess: Gift of the Whales. Seattle: Sasquatch Books 1999 

GÜNTHER ORTMANN

Prof. Dr. Günther Ortmann ist Forschungsprofessor für Führung am Reinhard-Mohn-Institut für Unternehmensführung an der UW/H. Als Junge dem HSV verfallen – ist er seit Langem aber zum BVB bekehrt. Soeben erschienen und aus dem Rahmen fallend: Fußball Blues (edel books), ein witzig-wehmütiges Buch eines BVB-Fans.

Für unser Heft haben wir die thematische Verbindung in die Fakultät für Wirtschaft und Gesellschaft der UW/H gesucht. Und der Erste, der uns – quasi über Nacht – einen Beitrag zugeschickt hat, war der erfahrene Kolumnist und Autor Günther Ortmann.