WAS KÖNNEN BORNIERTE AKROBAT*INNEN VON WELTFREMDEN VERSAGER*INNEN LERNEN ...?

DASS MAN ANDERS WISSEN KANN!

Johannes Wiek, Interview mit Dr. Alexander Jakobidze-Gitman

Interview und Einladung zur nächsten Veranstaltung mit Dr. Alexander Jakobidze-Gitman – Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Zentrum Studium fundamentale, Lehrstuhl für Phänomenologie der Musik. Klavierstunden am Moskauer Tschaikowski-Konservatorium. Postgraduate-Studium an der Royal Academy of Music London. Studium der Kultur- und Kunstwissenschaften an der Russischen Staatsuniversität für Geisteswissenschaften. Promotion am Russischen Staatlichen Filminstitut.

Worum geht es in deinen Seminaren?

Die Veranstaltung ist ein Plädoyer dafür, dass unterschiedliche Erkenntnisarten endlich als gleichbedeutend anerkannt werden sollten. Das ist in vielen Wissensbereichen immer noch nicht der Fall. Verschiedene Wissens- und Erkenntnisformen in ihrer Vielfalt kennenzulernen und anzuerkennen – das will ich für Studierende erfahr­bar machen. Und das geht in der Musikwelt besonders gut. Denn nicht zuletzt sind gerade hier die unterschiedlichen Akteur*innen oftmals tiefgehend zerstritten.

Welche Wissensformen prallen denn hier aufeinander?

Zum Beispiel halten viele ausübende Musiker*innen Musiktheoretker*innen für weltfremde Versager*innen, die mit ihren Händen nichts Wertvolles vollbringen können und Studierende nur mit langweiligem Rumgequatsche quälen. Und viele Musikwissenschaftler*innen halten ausübende Musiker*­innen für bornierte Akrobat*innen oder dressierte Affen, die nur über Fingerfertigkeit verfügen – und darüber hinaus nichts kennen oder können. Und dann gibt es von beiden noch die Sicht auf die Musikkritiker*innen, dass diese weder etwas schaffen noch etwas lehren können und stattdessen nur müßig rumquatschen und mit ihrem weltfremden Wissen angeben. Das ist leider allzu häufig die Realität. Insofern gibt es keine Offenheit, voneinander zu lernen. Die neuste neurowissenschaftliche Forschung sagt aber etwas ganz anderes. Nämlich, dass das Gehirn bei allen diesen Wissensarten höchstkomplizierte Leistungen erbringt.

„Ich will darauf hinaus, dass sich unterschiedliche Erkenntnisformen gegenseitig hilfreich sein können, wenn man sie vorurteilsfrei betrachtet. Und das gilt für alle Wissensbereiche, nicht nur in der Musik.”

 

Dr. Alexander Jabobizde-Gitman

Wie zeigt sich das denn? Was können die Beteiligten denn voneinander lernen?

Früher gab es das Vorurteil, dass man nur schnell und präzise Musikinstrumente spielen oder Koloraturpassagen singen kann, wenn man einen leeren Schädel hat. Heute zeigt sich, dass das Gegenteil der Fall ist. Die musikalische Fingerfertigkeit wird mittlerweile von Kognitionsforscher*innen als eigene sensomotorische Wissensfähigkeit angesehen. Es wurde nachgewiesen, dass die neuronalen Netzwerke des Gehirns die enormen Leistungen von Virtuosen in einem hochkomplexen und extrem aktiven Wechselspiel erbringen. Profimusiker*­innen haben die so ziemlich besttrainierten Gehirne überhaupt. Leider zeigt die Erfahrung nur allzu oft, dass sie diese Fähigkeiten nicht auf Fragestellungen jenseits des Musikbetriebs anwenden. Mit anderen Worten, hoch entwickelte neuro­nale Netzwerke führen nicht unbedingt zur hochentwickelten kritischen Reflexionsfähigkeit, insbesondere wenn die so­ziale Umwelt die letztere nicht fördert. Und damit kommen wir zur nächsten musikalischen Wissensfähigkeit. Viele Musikstudierende halten das explizite Wis­sen, das sie von Nebenfächern an den Musikhochschulen lernen müssen, für völlig irrelevant. Und man kann nicht sagen, dass sie völlig unrecht haben, denn ein Stück expliziten Wissens an sich wird nutzlos bleiben, solange es meine Ohren nicht schärft, mein Wahrnehmungsvermögen nicht sensibilisiert und mir Anregungsimpulse für selbstständige Suche nicht gibt. Explizites Wissen wird lebendig, wenn es eine Resonanz mit unseren unmittelbaren instinktiven Reaktionen auf die Musik etabliert. Die entscheidende Frage ist, inwiefern das ex­plizite Wissen im Endeffekt dazu anregt, sowohl beim Mu­sikschaffen als auch beim Musikhören neue Wege zu suchen. Und nicht zuletzt gibt es bei guten Kritiker*innen eine Form des Wissens, die man heute perzeptives Wissen nennt. Es ist die Fähigkeit, beim Musikhören die Noten mit Sinn zu verbinden. Das man in der Musik harmonische Wirkungen oder verborgene Zitate erkennt oder wohin sich ein musikali­scher Verlauf entwickelt. So etwas kann man nicht aus Lehrbüchern lernen. Solche Wissensformen entstehen nur durch langwieriges und schwieriges Erfahrungslernen. Dabei geht es nicht darum, Musik im Lehnstuhl zu hören, sondern sehr bewusst und aufmerksam zu hören. Und es ist nachgewie­sen, dass das Gehirn bei solchen Formen des Hörens extrem aktiv ist und enorme Erkenntnisfähigkeiten entwickeln kann. Aber wobei es erst richtig spannend wird, sind die Wechselwirkungen dieser unterschiedlichen praktischen und theo­retischen Wissensformen in der Musik. Und genau darum soll es in meinem Seminar gehen. 

Warum ist das für Studierende aus anderen Disziplinen interessant?

Ich will darauf hinaus, dass sich unterschiedliche Erkenntnisformen gegenseitig hilfreich sein kön­nen, wenn man sie vorurteilsfrei betrachtet. Und das gilt für alle Wissensbereiche, nicht nur in der Musik. Dabei zeigt auch das Grundkonzept des Studium fundamentale seine Relevanz: Die Idee des interdisziplinären Wissenstransfers. Medizin-, Zahnmedizin-, Wirtschafts- oder Psychologiestudierende können hier, durch die Musik, etwas ganz Entscheidendes lernen: Erstens, dass etwas, was scheinbar nur eine Erkenntnisdimension für uns hat, viel mehr Dimensionen umfasst, als wir zu denken gewohnt sind. Und zweitens, dass lernrele­vante Kommunikation sehr weit über konventionelle Formen der Wissensvermittlung hinausgeht. Man kann in meinem Stufu-Seminar zur Musikreflexion z. B. lernen, wie man durch ganzheitliche körperliche Wahrnehmung ansonsten unver­ständliche und unfassbare musikalische Zusammen­hänge erfasst und Klangbrei Sinn verleihen kann. Und meine Hoffnung ist, dass man dadurch lernen kann, auch das Verständnis von Patient*innen oder von komplexen Situationen des Wirtschaftslebens in mehreren Dimensionen wahrzunehmen und zu reflektieren.

Und wie geht das ganz konkret?

Das wird eine Entdeckungsreise. Bei mir brauchen Studierende kein Vorwissen. Jeder wird ins kalte Wasser geschmissen. Und dann sehen wir gemeinsam, wie wir darin zurechtkommen. Wir werden aktiv hören, summen, dirigieren, klatschen. Wir werden körperliche und sinnliche Eindrücke reflektie­ren. Wir werden reflektieren, ob und wie sich unsere Sinneswahrnehmungen durch explizites Wissen verändern. Und zu welchen weiteren neuen Fragestellungen es uns anregt. Wer hat sich schon einmal die Frage gestellt, ob man ein Musikstück anders hört, wenn man einen Wikipedia-Artikel darüber gelesen hat? Die eigene Antwort darauf wird einen ganz sicher in Erstaunen versetzen…