Weight of Insomnia – von Malmaschinen und KI

Wen braucht es noch?

Text von Renate Buschmann

Der chinesische Maler Liu Xiaodong überraschte mich in seiner Retrospektive 2018 mit einer digital gesteuerten Malmaschine. Sie stand am Ende eines langen Ausstellungsparcours durch sein dreißigjähriges Schaffen, das keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass Xiaodong ein versierter und ebenso passionierter wie intellektueller Maler ist. Xiaodong sucht die unmittelbare Nähe zu seinen Sujets, malt inmitten des Geschehens und ‚analysiert‘ geradezu mit seinen figurativen Bildern die von ihm fokussierte Lebenswirklichkeit. Wie alle Maler*innen ist Xiaodong ein Gefühls- und Augenmensch – dessen zum Ausdruck gebrachte Individualität wir als Betrachter*innen kennenlernen wollen. Warum konfrontiert gerade er, der den gestalterischen Transfer vom Sehen ins Abbilden virtuos beherrscht, uns mit einer Maschine, die an seiner Stelle das Malen übernimmt?

     Nichts könnte Xiaodong ferner liegen, als die Malerei auf einen technischen Vorgang zu reduzieren, dessen Charakteristik von variablen Einstellungsgrößen der Programmierung abhängig ist. Welchen Wert misst er dem kreativen Akt im Malen bei, wenn die Visualisierung auf der Leinwand doch längst maschinell erfolgen kann?

Muss der Mensch nun auch in der Kunst mit der Maschine und künstlicher Intelligenz konkurrieren, die ihm das urmenschliche Alleinstellungsmerkmal Kreativität streitig machen können?

     Skurrile Apparaturen, die autonom zeichnen, malen und bildhauern, haben Künstler*innen seit Mitte des 20. Jahrhunderts hergestellt, aus Freude am Konstruieren und Erfinden, aber auch um den idealisierten Akt der künstlerischen Schöpfung zu attackieren. Allen voran der Bildhauer Jean Tinguely, dessen dilettantisch anmutende Malmaschinen aus Schrott eine augenzwinkernde Provokation in den von abstrakter Malerei dominierten 1960er Jahren darstellten.
     Ganz anders gelagert ist Xiaodongs digitale Malmaschine „Weight of Insomnia“, die sich als effektives Präzisionsgerät erweist. Zusammen mit Technikern hat Xiaodong den Roboter entwickelt und lässt ihn seit 2016 in Ausstellungen vor Publikum malen. Verbunden ist der Roboterarm jeweils mit einer an einem öffentlichen Platz installierten Kamera, die der Maschine den visuellen Input zuspielt.

Ein ständiger, unkontrollierbarer Datenfluss speist die künstliche Intelligenz des Malrobo­ters, der unentwegt aufzeichnet und die ihn erreichenden digitalen Daten in einen malerischen Duktus übersetzt.

     Sein ‚Auge‘ ist die entfernt positionierte Überwachungskamera, die rund um die Uhr beobachtet und anders als ihr menschliches Pendant Schlaflosigkeit (insomnia) zum Prinzip permanenter Aufmerksamkeit und Produktivität erklären kann. Seine Vorgehensweise beruht auf Algorithmen, die aus den Kamerabilddaten die künstlerische Umsetzung für die Leinwand berechnen. Entstanden sind auf diese Weise monochrome Gemälde von prominenten Plätzen, u.a. in Peking, Shanghai, Berlin und London, durch die Pinselführung eines Roboters, aber mit einer vom Künstler definierten Programmierung. Der dokumentarische Anspruch, dem sich Xiaodong mit seiner Vorort-Malerei stets verpflichtet fühlt, wechselt bei seinem Roboterprojekt zu mechanischer Perfektion und Kontrolle. Aus der Zuverlässigkeit der Malmaschine resultiert über den mehrwöchigen Malprozess ein Übermaß an Datenerhebung und -sammlung, sodass die Vielzahl an erfassten Situationen übereinander gemalt und letztendlich in ihrer Akkumulation zur Unkenntlichkeit beitragen. Die Effizienz der maschinellen Endlosschleife löscht ihre eigenen Ergebnisse wieder aus.
     Das Beispiel des Malers Liu Xiaodong macht deutlich, dass digitale Anwendungen und Konstruktionen Bestandteile der Gegenwartskunst sind – unabhängig davon, ob die Künstler*innen ausschließlich mit technologischen und digitalen Medien oder durchweg in konventionellen Gattungen arbeiten.

Je stärker sich die Digi­talisierung in unserer Lebenswelt durchsetzt, umso mehr werden die damit verbundenen ethischen, moralischen und ästhetischen Fragen zu Denkanstößen für die künstlerische Praxis.

     Ob Xiaodongs Malmaschine „Weight of Insomnia“ samt ihren Gemälden nun weiterhin als Malerei oder als digitale Kunst bezeichnet wird, bleibt unerheblich. Endscheidend ist vielmehr, es nicht als reine Affirmation des digitalen Fortschritts zu verstehen oder gar als Ablösung der Malerei. Aus seiner Perspektive als Maler trägt Xiaodong damit zu Themen wie Privatheit und Überwachung, Singularität und Reproduktion, Kreativität und Künstliche Intelligenz bei. Auch die Verunsicherung über die unabsehbaren Folgen von KI überträgt der Maler in sein Handlungsfeld.
     Wissenschaftler haben längst den Beweis erbracht, dass Computerprogramme Malstile täuschend echt kopieren können. 2016 titelte die Süddeutsche Zeitung „Dieser Computer malt fast so schön wie ein Mensch“, als es einem Forscherteam gelungen war, die ‚Handschrift‘ renommierter Maler über Mustererkennung zu entschlüsseln und von einer Software imitieren zu lassen. Inzwischen ist daraus ein lukrativer Service mit dem Slogan „Repaint your picture in the style of your favorite artist“ geworden, der jedes Foto in einen wiedererkennbaren Stil, beispielsweise von Van Gogh oder Edvard Munch, umwandelt. Eine technologische Spielerei, um populären Kitsch herzustellen.
     Im selben Jahr machte das ambitionierte Projekt „The Next Rembrandt“ Furore. Man hatte mit einer aufwändigen Datenanalyse von hunderten von Rembrandt-Gemälden das idealtypische Rembrandt-Gemälde berechnet und es fast 350 Jahre nach dem Tod des Malers im 3-D-Druckverfahren minuziös hergestellt. Das Resultat versetzte in Staunen – wegen der Perfektion des Imitats, aber vor allem wegen der gelungenen Demonstration, dass Data Mining-Methoden und Künstliche Intelligenz für die Auswertung von Big Data ungeahnte Möglichkeiten bieten. Letzteres war vermutlich das Anliegen der Hauptsponsoren Microsoft und ING Direktbank. Doch beide Fälle belegen:

Künstliche Intelligenz ist nicht zu verwechseln mit künstlerischer Intelligenz.

     Unsere Lebenswelt hat sich inzwischen zu einem digitalen Daten- und Anwendungsfeld entwickelt, von der sich auch die Kunst nicht lossagen kann. Die Digitalisierung vieler Lebensbereiche und die Erfolgsgeschichte des Internets, das omnipräsent unser Alltagsgeschehen dominiert, haben gänzlich neue Medien und IT-Techniken geschaffen, aus denen heraus das Bedürfnis und die Notwendigkeit nach einer digitalen Kultur entstanden ist.
     Geht es einerseits noch immer um die Beherrschung innovativer Technologien zum Einsatz in künstlerische Sparten (wie Programmierung, KI und Virtual Reality), resultiert daraus andererseits unabdingbar die kritische Auseinandersetzung mit der Smart New World und der Gefahr der digitalen Selbstentmündigung. Um nur einige Stichworte zu nennen: Datenschutz, Datenmissbrauch und Datenspeicherung, Monopolisierung durch digitale Dienstleister und E-Commerce, digitale Kontrollmechanismen und Manipulationen, oder um konkreter zu werden: Hacking, Doxing, Traking, Fake News, Deepfakes und Chatbots.

     Angesichts solcher massiven Verschiebungen in den unterschiedlichen medialen Kontexten liegt das Potential von Künstler*innen nicht allein in ihrer Faszination für technische Innovationen und Umgebungen, sondern gerade in der Kompetenz, mit künstlerischen Mitteln und künstlerischer Forschung auf die Tragweite heutiger Medienaffinität, Reizüberflutung und digitaler Ökonomisierung intelligent und eindrücklich aufmerksam zu machen.


PROF. DR. RENATE BUSCHMANN

Seit Januar 2020 ist Prof. Dr. Renate Buschmann Inhaberin des Lehrstuhls für Digitale Künste und Kulturvermittlung am Zentrum Studium fundamentale.

WEIGHT OF INSOMNIA
Ausstellungsansicht Liu Xiaodong
© NRW-Forum Düsseldorf / Foto: Bozica Babic


LIU XIAODONG

Liu Xiaodong (* 1963) ist ein chinesischer, international gefragter Maler. 2018 haben die Kunsthalle Düsseldorf und das NRW-Forum Düsseldorf ihm die Retrospektive „Slow Homecoming“ ausgerichtet.