Königsberger Brückenproblem:
Die Frage war, ob es einen Weg gibt, bei dem man alle sieben Brücken der Stadt genau einmal überquert, und wenn ja, ob auch ein Rundweg möglich ist, bei dem man wieder zum Ausgangspunkt gelangt

Es lohnt sich, einen Moment innezuhalten und drei Dinge zu unterscheiden: die Netzwerkanalyse, die Netzwerktheorie und die Theorie der Netzwerkgesellschaft.

Die Netzwerkanalyse wurde aus der Taufe gehoben, als der Mathematiker Leonard Euler sich 1736 des Königsberger Brückenproblems annahm. Königsberg liegt am Flüsschen Pregel, das einen Teil der Innenstadt wie eine Insel umschließt, so dass insgesamt sieben Brücken die einzelnen Stadtteile damals miteinander verbanden. Die Königsberger fragten sich, ob man einen Spaziergang durch Königsberg machen kann, bei dem jede Brücke genau einmal überquert wird. Was man sich bei einem Sonntagsspaziergang so fragt. Euler löste das Problem auf typisch mathematische Art. Er fand nicht etwa den Weg, auf dem dieser Spaziergang möglich ist, sondern wies nach, dass es einen solchen Weg nicht gibt. Geboren war die Graphentheorie, die seither in zahlreichen Problemstellungen der Gestaltung von Verkehrsnetzen, elektrischen Netzwerken oder Algorithmen sozialer Medien Verwendung findet. Die Fragestellung ist immer dieselbe: Welche Ecken („Knoten“) stehen dank welcher Verbindungen („Kanten“) in direkter oder indirekter Beziehung zueinander und welche Brücken kann man bauen oder abbrechen, um weitere Verbindungen zu schaffen oder zu verhindern?

Entscheidend für Eulers „Lösung“ war nicht ein geometrischer Versuch, die Linien eines möglichen Weges nachzuzeichnen, sondern der topologische Ansatz, jede Kante und jeden Knoten in einem strukturellen Zusammenhang mit allen anderen Kanten und Knoten zu sehen. Den gesuchten Spaziergang durch Königsberg gäbe es nur dann, wenn jeder Knoten mit anderen Knoten in einer geraden Anzahl von Verbindungen stünde, so dass man jeweils hin-, aber auch wieder zurückkommt. Das ist in Königsberg nicht der Fall. In jedem der Stadtteile bleibt man stecken, weil kein noch unbegangener Weg wieder hinausführt.

Die Geburtsstunde der Netzwerktheorie ist die 1973 im American Journal of Sociology publizierte Entdeckung des Soziologen Mark Granovetter, dass schwache Verbindungen zwischen Personen starke Wirkungen haben können. Granovetter hatte herausgefunden, dass Suchende nach einem Arbeitsplatz oder einem Lebenspartner häufig nicht unter denen fündig werden, mit denen man ohnehin in Verbindung steht, sondern unter denen, mit denen diejenigen in Verbindung stehen, mit denen man selbst in Verbindung steht. Nicht die direkten, sondern die indirekten Verbindungen sind unter Umständen die folgenreichen.
Eine Theorie wird aus dieser Entdeckung dann, wenn man das Phänomen nicht nur beschreibt, sondern erklärt. Im Zentrum dieser Erklärung stehen wieder Brücken beziehungsweise Brückenbauer oder auch Makler, die zwischen denen, die sich nicht kennen, Verbindungen schaffen. Sich kennenzulernen fällt leichter, wenn man Leute kennt, die die Leute kennen, die man kennenlernen möchte. So oder so ist die Welt klein genug, um über maximal sechs Zwischenschritte mit jeder beliebigen Person auf diesem Planeten in Verbindung stehen zu können. Dies ist auch die Voraussetzung für die jüngst wieder in den Fokus geratenen exponentiellen Effekte von Ansteckungsdynamiken in Netzwerken. Wenn jede Person, die man kennt, mehr als eine Person kennt, die man nicht kennt, ist die Welt in Windeseile „durchseucht“. Das ist die Voraussetzung sowohl für die Chance einer Monopolbildung wie auch für die Schwierigkeit, sich ein Minimum an Distanz zu erwirtschaften.
Erst später hat man entdeckt, dass die Stärke der schwachen Verbindungen ein Risiko enthält. Denn immer dann, wenn man jemanden kennenlernt, läuft man Gefahr, dass der- oder diejenige, den oder die man kennenlernt, sich für Leute, die man selbst bereits kennt, sehr viel mehr interessiert als für einen selbst. Plötzlich ist man aus dem Spiel und kann nur noch zuschauen. Wer sich auf Netzwerke einlässt, eröffnet Kontaktchancen, die man nicht unter Kontrolle hat. 

In der Netzwerktheorie verschiebt sich der Fokus daher vom Auszählen der Knoten und Kanten auf eine Beschreibung und Erklärung der Selektivität von Verbindungen. In der Netzwerktheorie interessiert das Netzwerk nicht als Kristall, in dem jedes Element mit allen anderen in Verbindung steht, sondern als Falte, in der sich höchst unterschiedliche Nachbarschaftsverhältnisse ergeben. Das Netzwerk interessiert als Konzept unanschaulicher und verwickelter Verhältnisse, als Idee gekrümmter Räume mit höchst unwahrscheinlichen Kraftlinien der Gravitation.
Die Netzwerktheorie stellt die Frage, welches Problem Netzwerke stellen und lösen. Das ist eine soziologische Frage. Man braucht eine Vorstellung davon, wer oder was sich in Netzwerken aus welchen Gründen und mit welchen Ergebnissen bewegt. Es genügt nicht, von Verbindungen zu reden, ohne zu wissen, was diese Verbindungen bewirken oder auch verhindern. Und es genügt nicht, von Knoten zu reden, ohne darauf hinzuweisen, dass diese Knoten nicht nur substanziell, sondern vor allem relational und funktional zu verstehen sind. Sie sind, was sie sind, aber sie tun auch, was sie tun. Im Angelsächsischen ist network nicht nur ein Substantiv, sondern auch ein Verb.
Den strengsten Versuch einer Netzwerktheorie hat der Soziologe Harrison C. White vorgelegt. 1992 erschien sein Buch „Identity and Control: A Structural Theory of Action“.

Identität und Kontrolle sind genau das, worum es in Netzwerken geht. Die Grundidee ist, dass die Identität aller an einem Netzwerk beteiligten Elemente nicht etwa vorab gegeben ist, sondern sich aus ihren Beziehungen ergibt. Sag mir, mit wem du in Verbindung stehst, und ich sage dir, wer du bist. Das soll nicht heißen, dass substanzielle Fragen der Qualität eines Elements keine Rolle spielen. Aber zum einen sind sie selbst das Ergebnis früherer Netzwerke, in denen diese Elemente zu ihrer Qualität gefunden haben, und zum anderen sind sie ebenso sehr Voraussetzung wie Restriktion möglicher Verbindungen in neuen Netzwerken.
Identität ist das in Abhängigkeit von wechselnden Netzwerkbeziehungen grundsätzlich ein fragiles Ergebnis von Verbindungen. Kontrolle ist daher die entscheidende Aktivität. Kontrolle soll heißen, dass jedes Element daran interessiert ist, die Beziehungen aufrechtzuerhalten, in denen es steht, damit es bleiben kann, was es ist, oder auch werden kann, was es werden möchte. Wie macht man das? Natürlich kann man versuchen, die Beziehungen, in denen man steht, entsprechend zu manipulieren. Leichter und erfolgversprechender jedoch ist der Versuch, an sich selbst zu arbeiten, um nach Möglichkeit so attraktiv zu werden oder zu bleiben, dass die Beziehungen, die man braucht, von denen gesucht werden, die man sich wünscht.
Aus einer Netzwerktheorie wird drittens eine Theorie der Netzwerkgesellschaft, indem man ein möglichst offenes Verständnis davon erprobt, welche Sachverhalte geeignet sind, als „Elemente“ eines Netzwerks in Erscheinung zu treten. Im Gegensatz zu einem netzwerkanalytischen oder auch betriebswirtschaftlichen Ansatz verfolgt die soziologische Netzwerktheorie von Harrison C. White oder auch Bruno Latour die Idee, dass diese Elemente nicht homogener, sondern heterogener Art sind. Nicht nur Personen oder Organisationen verknüpfen sich zu Netzwerken, sondern darüber hinaus auch Orte und Geschichten, Praktiken und Konventionen, Körper und Techniken, Werte und Institutionen. Für sie alle gilt dasselbe Problem von Identität und Kontrolle, dieselbe Ungewissheit, wer oder was wie lange welche Beziehung zu welchen anderen Elementen aufrechterhalten oder auch weiterentwickeln kann.
Damit weitet sich nicht nur der Blick des Soziologen, sondern auch das Verständnis des Sozialen. An einer „Gesellschaft“ nimmt jeder Mensch, jede Maschine, jeder Ort, jede Geschichte, jede Organisation teil, die in dieser Gesellschaft dazu beitragen, dass sich Identitäten weiterentwickeln und eine Kontrolle über das eigene Handeln und Erleben möglich bleibt. Ein nachhaltiger Zusammenhalt setzt nicht voraus, dass alle mit allen in Verbindung stehen. Aber es sollte immer eine Brücke in Reserve gehalten werden, die aus einer ungeraden Zahl von Verbindungen eine gerade macht.

Lene Baur: Königsberger Brückenproblem, Seminarvortrag an der Philipps-Universität Marburg im Wintersemester 2009/10
yumpu.com/de/document/read/10322899/02-lene-baur-konigsberger-bruckenproblem-philipps-universitat-

Mark Granovetter: „ The Strenth of Weak Ties“. In: American Journal of Sociology 78 (1973), S. 1360–1380
snap.stanford.edu/class/cs224w-readings/granovetter73weakties.pdf

Tobias Schlechtriemen: Bilder des Sozialen: Das Netzwerk in der soziologischen Theorie. München: Fink 2014 

Dirk Baecker: „Harrison C. White: ‚Identity and Control: A Structural Theory of Action‘“. In: Soziale Systeme: Zeitschrift für soziologische Theorie 2 (1996)
S. 441–445

catjects.files.wordpress.com/2021/05/white_identity_and_control_rezension.pdf

Manuel Castells: Der Aufstieg der Netzwerkgesellschaft. Opladen: GRIN 2001

DIRK BAECKER

Prof. Dr. Dirk Baecker ist Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Kulturtheorie und Management an der UW/H.
uni-wh.de/wirtschaft-und-gesellschaft/department-fuer-philosophie-politik-und-oekonomik/lehrstuehle-professuren-und-institute/kulturtheorie-und-management

Ein Themenheft zu Netzwerken war ohne die Verbindung mit Dirk Baecker für uns nicht denkbar. Denn keiner schaut wie er aus soziologischer und systemischer Perspektive auf Netzwerkphänomene in Organisationen und Gesellschaft. Und nutzt die Intelligenz der Soziologie, um die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft zu unterstützen.