Ausschnitt von der Website des Duos Jodi, das zu den ersten Künstler*innen der Netzkunst zählt.
jodi.org/100cc/index.html (Screenshot 14.03.2021), Courtesy of jodi.org

2019 hat sich das Zentrum für Netzkunst e.V. in Berlin gegründet. Der Verein hat sich zum Ziel gesetzt, Netzkunst und Netzkultur zu bewahren, zu archivieren, zu rekonstruieren, zu erforschen und auszustellen, insbesondere deshalb, weil öffentliche Institutionen sich dieser Kunst bislang kaum angenommen haben. Seit September 2019 vergibt das Zentrum für Netzkunst regelmäßig eine „Telegram Residency“ an Künstler*innen und Aktivist*innen. Im Sommer 2020 entstand daraus die Online-Ausstellung „stick.t.me“ auf dem Messaging-Dienst Telegram.

Dass Kunst im und mit dem Internet produziert werden kann, überrascht spätestens seit der Covid-19 Pandemie kaum jemanden. In Folge der Regulierungsmaßnahmen sind Museen und Kunstinstitutionen gezwungen, ihre Tätigkeiten zumindest temporär ins Digitale zu verlegen. Dabei bleibt oftmals unbeachtet, dass das Internet von Beginn an von Künstler*innen untersucht und als Medium für künstlerische Praktiken genutzt wurde. Die durch das Internet neu entstandene Möglichkeit der Vernetzung loten viele Netzkunstarbeiten ab 1990 aus. Gegenwärtig wird das Netz zum Ort, an dem künstlerische Arbeiten nicht nur produziert, sondern vor allem auch veröffentlicht werden.

Das Verhältnis von Kunst und Internet wird durch unterschiedliche Begriffe und medientheoretische Perspektiven charakterisiert. Netzkunst, net.art, Internet Art und Post Internet Art, um nur einige Bezeichnungen zu nennen, verweisen auf verschiedene Zeitspannen und künstlerische Praktiken, die stark an den jeweiligen Stand der technologischen Entwicklungen vom Internet gekoppelt sind. Mit dem Glossar stellen wir in Kurzform die Entstehungsgeschichte von internetbasierter Kunst vor.

NET.ART
In den 1990er Jahren wurde der Name net.art als Selbstbezeichnung von einer Gruppe von Künstler*innen eingeführt, die im und mit dem Internet gearbeitet haben. Es handelte sich keineswegs um eine homogene, bewusst gegründete Gruppe, sondern um Künstler*innen, die sich in dem zu diesem Zeitpunkt noch wenig bekannten Internet kennenlernten und auf Konferenzen begegneten.¹ Die Wortschöpfung, deren Punkt im Namen an Dateinamen angelehnt ist, wird dem Künstler Vuk Ćosić zugeschrieben.

NET ART / NETZKUNST
Einige Jahre später definierte der Kunstwissenschaftler Tilman Baumgärtel die Netzkunst als Kunst, „die sich mit den genuinen Eigenschaften des Internets auseinandersetzt und die nur im und mit dem Internet stattfinden kann.“² Als Merkmale hob er die Globalität, Konnektivität, Immaterialität, Interaktivität, Egalität und Multimedialität dieser Kunst hervor, ebenso wie ihr intendiertes kritisches Potential. Netzkünstler*innen reflektieren zum Beispiel über die Wirkungen von Internet-Infrastrukturen auf Umwelt, Überwachung, Online-Identitäten, Fake News, Konsumstrukturen oder Extremismus auf Social Media. Die Kunstkritikerin Josephine Bosma entwirft eine breitere Definition von Netzkunst, die sich nicht ausschließlich auf die Medienspezifizität des Internets stützt, sondern das Netz beziehungsweise das Network als Prinzip der künstlerischen Praxis versteht: „The network, on the other hand, implies a flow and positioning, variety and collectivity. It allows for divergences that remain interconnected.“³

INTERNET ART
Julian Stallabras und auch Rachel Greene, beide Kunsttheoretiker*innen, betrachten hingegen Netzkunst als eine abgeschlossene historische Periode und bevorzugen den Begriff Internet Art, mit dem diversere Praktiken überdacht werden können.⁴ Hier rücken Online-Projekte in den Vordergrund, die einen aktivistischen Charakter haben und als Reaktion auf die Kommerzialisierung des Internets in den 2000er Jahren zu verstehen sind. Interaktivität, Kollaboration und Reproduzierbarkeit sind grundlegende Eigenschaften zeitgenössischer Kunst und gewinnen mit der Internet Art aber neue Intensität und Aktualität.

POST INTERNET ART
Auf die Künstlerin Marisa Olson geht der Begriff Post Internet Art zurück. Post Internet bezieht sich auf den Zustand der Welt, von dem aus unser Leben ohne Internet nicht mehr denkbar ist und das Internet zur Voraussetzung geworden ist. „I said that both my online and offline work was after the internet in the sense that ,after‘ can mean both ,in the style of‘ and ,following.‘“⁵ Post Internet Art meint künstlerische Arbeiten, die unter der Prämisse entstanden sind, dass das Internet allgegenwärtig ist. Der Kunstkritiker Gene McHugh geht sogar so weit, dass im Post-Internet-Zustand grundsätzlich jede Kunst in Relation zum Massenmedium Internet steht: „Even if the artist doesn’t put the work on the Internet, the work will be cast into the Internet world; and at this point, contemporary art, as a category, was/is forced, against its will, to deal with this new distribution context or at least acknowledge it.“⁶

AUTOR*INNEN

Anneliese Ostertag und Tabea Rossol, Mitautor*innen des Beitrags und Mitglieder des Zentrums für Netzkunst, sind Alumnae der Fakultät für Kulturreflexion, Universität Witten/Herdecke. Sie waren zu Gast im Seminar „Internet + Kunst = ? Künstlerische Konzepte von Netzkunst bis Post-Internet-Art“(WiSe 20/21) bei Prof. Dr. Renate Buschmann.

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Vergleiche Tilman Baumgärtel: Das Internet als imaginäres Museum. 1998
duplox.wzb.eu/texte/tb

Tilman Baumgärtel: net.art. Materialien zur Netzkunst. Nürnberg: Verlag für moderne Kunst Nürnberg 1999, S. 6; siehe auch Tilman Baumgärtel: net.art 2.0. Neue Materialien zur Netzkunst. Nürnberg: Verlag für moderne Kunst Nürnberg 2001

Josephine Bosma: Nettitutes − Let’s Talk Net Art. Institute of Network Cultures. Rotterdam: NAi Publishers 2011, S. 38

Rachel Greene: Web Work. A History of Internet Art. In: Artforum (Mai 2000), S. 162-169
Julian Stallabrass: Internet Art: The Online Clash of Culture and Commerce. London: Tate Publishing 2003

Marisa Olson: Postinternet: Art After The Internet (2011)
are.na/block/1982571

Gene McHugh: Post Internet. Notes on the Internet and Art 12.29.09 > 09.05.10. Brescia: Link Editions 2011, S. 6