Über Vernetzungen in Kammermusikensembles, Übereinstimmung der Geschmäcker, Seelenverwandschaften und Affinitäten der Temperamente…

Selbst im Kalten Krieg waren für bekannte Musiker*innen beider Blöcke Grenzen durchlässig. Bei ihren internationalen Konzertreisen repräsentierten sie nicht nur die musikalischen Traditionen ihrer Länder, sondern auch deren kulturelle Werte. Folglich änderte der Fall des Ostblocks die kulturelle Landschaft drastisch.

Der Strom auswandernder Musiker*innen aus der ehemaligen Sowjetunion war dabei nur ein Teil dieses Prozesses. Ostasiatische Länder, allen voran Japan, haben zum einen angesehene osteuropäische Musiker*innen abgeworben, zum anderen haben sie musikalisch begabte Jugendliche an west- und osteuropäischen Musikhochschulen geschickt. Allein die Klavierabteilung des Moskauer Konservatoriums hatte am Anfang der 2000er Jahre Studierende aus Japan, Südkorea, China, USA, Australien und südamerikanischen Ländern.

Kaum bestreitbar ebneten die Veränderungen, die dadurch stattgefunden haben, den Weg für viele Talente. Allerdings ist die Klage, die Kunst der Solo-Instrumentalisten sei in Verfall geraten, nicht bloß ein Zeichen des Kulturpessimismus: Plötzlich hörte man von überall enttäuschte Konzertbesucher*innenstimmen, die sich über begabte Musiker*innen aus ganzer Welt, die gleich gut das gleiche Repertoire auf die gleiche Art und Weise spielen, beklagten. Derartige Standardisierung und Mittelwertbildung lassen sich als unglückliche Folgen der Internationalisierung des klassischen Musikbetriebes einordnen.

Das Ensemblemusizieren – von Duetten bis Kammerorchester – wurde hingegen zum unbestreitbareren Profiteur der erfolgten Umwandlung. Zum einen ist das Repertoire der Kammermusik viel breiter: Anders, als es im Solo- und Orchestermusizieren der Fall ist, sind die Alte und Neue Musik fast die gleichbedeutenden Bestandteile dessen wie Klassik und Romantik. Zum anderen erwiesen sich nicht nur die geöffneten Grenzen und zahlreichen internationalen Förderungsprogramme, sondern auch die wirtschaftlichen Bestandteile des Konzertbetriebes für internationale Kooperationen junger Künstler*innen als förderlich. Der Broterwerb fand auf neoliberale Weise statt. Anstatt unbefristete, von Steuerzahler*innen finanzierte Arbeitsverträge zu bekommen, ernährten sich die Ensemblespieler*innen von sporadischen Gagen. Zwar konnte der Lebensunterhalt somit nicht langfristig abgesichert werden; im Gegensatz zu den meisten Kulturorchestern waren jedoch die Ensembles meistens viel stärker motiviert, große künstlerische Herausforderungen anzunehmen.

Allein das Aussehen und die Namen der jungen Ensemblemusiker*innen legten dem Publikum nahe, dass sie von Kindesbeinen an völlig unterschiedliche Sprachen sprachen, diametral divergierende Vorstellungen von guten Manieren hatten und mit inkompatiblen religiösen Ansichten aufgewachsen waren. Umso beeindruckender wirkte, wenn nach nur wenigen gemeinsamen Treffen ihr Ensemble so einheitlich wie eine künstlerische Persönlichkeit klang. Tatsächlich stößt jede verbale Sprache beim Kommunizieren musikalischer Intentionen auf feste und enge Grenzen. Man kann zwar grob festlegen, wie schnell ein Stück oder ein Satz gespielt wird, ab welchem Takt

„Tatsächlich stößt jede verbale Sprache beim Kommunizieren musikalischer Intentionen auf feste und enge Grenzen.“

Alexander Jakobidze-Gitman

man die Lautstärke erhöhen oder vermindern soll und wer an welcher Stelle den Auftakt mit einem Kopfnicken zeigt, aber die Richtung und Intensität des musikalischen Stroms und seine äußerst nuancierten Änderungen entziehen sich verbaler Erklärung. Die Teilnehmenden eines sehr guten Musikensembles sollen aber in der Lage sein, diesen kaum berechenbaren musikalischen Strom absolut synchronisiert zu beherrschen und ihn als äußerst lebendig und auf keinen Fall mechanisch für die Zuhörer*innenschaft darzustellen. Viele Musiker*innen sagen, dass sie nicht wirklich Musik „machen“, sondern sich ihrem Fluss hingeben oder von diesem mitreißen lassen. Wie dies genau zustande kommt, gehörte schon immer zu den größten Rätseln der Tonkunst. Einige wissenschaftliche Bereiche wie die Physiologie, die Psychologie oder auch die philosophische Ästhetik haben ernsthafte Schritte zum Verständnis dieses Rätsels gemacht.

Der österreichische Philosoph und Soziologe Alfred Schütz (1898–1958) zum Beispiel spielte jeden Samstag Klavier, jedoch nicht allein, sondern mit Geigern, Cellisten oder anderen Pianisten. Er war überzeugt, dass „die Analyse der sozialen Beziehung des gemeinsamen Musizierens zur Klärung […] des Kommunikationsprozesses als solchem beiträgt“¹. Ob wir Musik hören oder selbst schaffen, wir würden uns „in unseren fließenden Bewußtseinsstrom“ versenken. Musik habe keine repräsentative Funktion und sei deshalb „die einsamste Kunst“. Eine besondere Herausforderung war für Schütz die Frage, wie Musik überhaupt kommuniziert werden könnte, wenn „jede Form der Kommunikation zwischen Menschen […] ein Ereignis oder eine Folge von Ereignissen in der äußeren Welt voraus[setze]“. Dabei ist zu beachten, dass Schütz seine Ansichten dazu lange vor der Entdeckung der Spiegelneuronen formuliert hatte, deren Rolle beim erfolgreichen gemeinsamen Musizieren in zahlreichen empirischen Studien seit den 1990er Jahren nachgewiesen ist. Im Gegensatz zu den Orchestern, so Schütz, könne „zwischen einer kleinen Zahl von Musizierenden“ eine „enge face-to-face-Beziehung“ unmittelbar hergestellt werden. Die Handlung eines Ensemblespielers oder einer Ensemblespielerin sei „nicht nur an den Gedanken des Komponisten orientiert […], sondern auch wechselseitig an den Erlebnissen in innerer und äußerer Zeit des anderen Musizierenden“. Jeder habe „gleichzeitig in lebendiger Gegenwart teil am Bewußtseinsstrom des anderen. Das ist möglich, weil […] die Teilnehmer nicht nur einen Abschnitt der Zeit teilen, sondern auch einen Raumsektor. Der wechselnde Gesichtsausdruck des anderen, seine Gesten beim Spielen seines Instrumentes, kurz alle Tätigkeiten des Aufführens, richten sich in die äußere Welt und können vom Partner unmittelbar erfasst werden.“ Die Körpersprache der Ensemblemitglieder, die der gegenseitigen Beobachtung offensteht, kommuniziert nicht ihre individuellen Musikerlebnisse, sondern fungiert als eine Art Schalter, durch den sie auf einen musikalischen Fluss zugreifen, der keinem oder keiner Musizierenden (auch nicht einmal Komponist*innen!) gehört, sondern einen intersubjektiven Charakter hat.

Je mannigfaltiger das Aussehen der Musiker*innen wirkte, umso beeindruckender war die Einheit des musikalischen Flusses, den sie erzeugt haben. Die ästhetischen und politischen Faktoren unterstützten sich gegenseitig so stark, dass das Ensemblemusizieren um die letzte Jahrhundertwende leicht instrumentalisiert werden konnte, um die neoliberale Weltordnung zu besingen, bei der nicht ethnische Herkunft und territoriale Zugehörigkeit, sondern das Können, die Übereinstimmung der Geschmäcker, Seelenverwandtschaft und Affinität der Temperamente den Erfolg garantierte. Mit Publicity und medialer Unterstützung funktionierte es auch ganz unproblematisch: Die nomadischen Biographien junger Künstler*innen ließen sich besonders romantisch schildern, und die Medienunternehmen waren zudem von jeglicher Sorge um politische Korrektheit befreit, da sich Weltkontinente, Geschlechter und sexuelle Orientierungen in den meisten Ensembles ganz gleichmäßig repräsentierten. Doch die Hauptsäule, auf der das neoliberale Funktionieren des Ensemblemusizierens ein Vierteljahrhundert lang stützte, erwies sich als besonders zerbrechlich. Denn noch vor dem Ausbruch der COVID-Pandemie hatte die Verstärkung solch unterschiedlicher sozialer Bewegungen wie Euroskeptizismus und Umweltaktivismus die bisher uneingeschränkte Freizügigkeit bedroht. In den post-pandemischen Zeiten müssen die Musiker*innen und ihre Wohltäter*innen verlässlichere Standbeine finden.

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Alfred Schütz: Schriften zur Musik. Konstanz / München:
UVK Verlagsgesellschaft 2016

Alexander Jakobidze-Gitmann schafft im WITTEN LAB Zukunftslabor Studium fundamenale die Verbindung zur Welt der klassischen Musik. Und wir freuen uns sehr darauf, wieder zu erleben, dass er diese Verbindung auch live mit seinem Klavierspiel und seinen Erzählungen herstellt. 

ALEXANDER JAKOBIDZE-GITMAN

Dr. Alexander Jakobidze-Gitman, wissenschaftlicher Mitarbeiter am WittenLab Zukunftslabor Studium fundamentale, Arbeitsbereich für Phänomenologie der Musik. Klavierstudium am Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium. Postgraduate-Studium an der Royal Academy of Music London. Studium der Kultur- und Kunstwissenschaften an der Russischen Staatsuniversität für Geisteswissenschaften.