Gina Graefe, studentisches Redaktionsmitglied und Orientierungsstudentin der UW/H, hat sich die Frage gestellt, ob die regionale Vernetzung von Akteur*innen innerhalb der Herstellungs- und Vertriebsstrukturen eine konkurrenzfähige Alternative zu unserer globalisierten Weltwirtschaft sein kann. Wenn wir heute die Folgekosten schlechter Herstellungsbedingungen für Mensch und Umwelt in der Ferne, die Umweltschädlichkeit von Transportschiffen und -flugverkehr kennen, so ihre Überlegung, dann müssten regionale Netzwerke doch jetzt eine boomende Alternative sein. Ihre Suche nach Antworten hat sie auf eine spannende Recherchereise – und gleichzeitig zu unerwarteten Erkenntnissen – geführt…

Eigentlich sollte ein ganz anderer Artikel entstehen. Ich wollte vorstellen, was für Ideen und Prinzipien mit dem Thema „Regionale Netzwerke“ in Verbindung stehen, was ein regionales Netzwerk ausmacht, welche zukunftsfähigen Möglichkeiten regionale Netzwerke bieten – und was es schon alles für erfolgreiche und innovative regionale Netzwerke gibt. Und zwar in verschiedenen Branchen und Bereichen. Ergänzen wollte ich das Ganze mit Stellungnahmen von Expert*innen, die etwas über die Entwicklung, Verbreitung und die Zukunftsperspektiven regionaler Netzwerke erzählen. Doch dann kam alles anders als erwartet…

Was mich von Anfang an interessiert hat, waren die negativen Folgen der sich immer weiter ausbreitenden Vernetzung unserer Weltwirtschaft auf die Umwelt. Dinge, die wir kaufen, nutzen und verwenden, sind heute in der Regel Ergebnis globaler Produktions- und Lieferketten. Und überall ist ja zu hören, dass diese Form der Wirtschaft eben nicht nur Vorteile und günstige Preise, sondern enorme Folgekosten für die Umwelt produziert. Meine Welt und die der Menschen um mich herum war zudem in der Corona-Krise gerade wesentlich kleiner geworden: Keine Präsenzlehre in der Uni, Homeoffice, keine Reisen… Und vor mir lagen Bücher aus der Degrowth-Bewegung, die sich schon seit Längerem für einen Wachstumsrückgang als nachhaltige Wirtschafts- und Gesellschaftsform einsetzt. Also begann ich mich zu fragen, ob regionale Netzwerke, in denen vor Ort Güter, Produkte und Dienstleitungen entstehen, eine konkurrenzfähige Alternative zu globalen, wachstumsorientierten Produktionsnetzwerken sein können. Kurze Wege, Knowhow-Bildung vor Ort, Stärkung der lokalen Wirtschaft… Eigentlich, so meine Erwartung, müssten solche Zusammenschlüsse lokaler Spieler doch boomen. Und ich müsste sie nur entdecken und beschreiben, wie sie funktionieren. Fest davon überzeugt, dass es bereits viele regionale Netzwerke gibt und ich nur noch die spannendsten Beispiele raussuchen müsste, fing ich an, zu recherchieren – und …
… kam in echte Schwierigkeiten. Mein Suchraster waren regionale Netzwerke im deutschsprachigen Raum, aus mindestens 4-7 lokalen Partnerinstitutionen, die sich mit dem gemeinsamen Ziel zusammengeschlossen haben, etwas zu schaffen, das konkurrenzfähig ist und Angebote mit global vernetzten Herstellungsprozessen zumindest zu einem kleinen Teil ersetzen kann – von mir aus auch mit einem Preisaufschlag für höhere Umweltstandards, Personalkosten etc. In Abgrenzung zu großen regionalen Industrieclustern, von denen es gerade in Deutschland einige gibt, sei es die Autoproduktion in süddeutschen Regionen oder die Medienwirtschaft in Köln. Doch je länger ich suchte, umso mehr schwand meine Anfangseuphorie. Zusammenschlüsse, die ich fand, waren entweder zu klein, um als Netzwerke zu gelten oder – und das war meistens der Fall – sie waren im „Absichtsstadium“. Man gab den Zusammenschlüssen spannende Namen und Selbstbeschreibungen – aber traf sich de facto nur zum Informationsaustausch. Einige andere lokale Netzwerke (z.B. im Bereich der Abfallverwertung) waren zeitweise durch staatliche oder europäische Förderung zustande gekommen, die jedoch vor Jahren ausgelaufen war, ohne dass die Projekte auffindbare Ergebnisse oder weiterführende Spuren hinterlassen hätten.
In der Folge begann ich, an mir und meinen Recherchefähigkeiten zu zweifeln und suchte Rat bei führenden Expert*innen, die als Vordenkende und hörbare Stimmen einer Degrowth-, Buy-local- und Gemeinwohlökonomie-Bewegung gelten. Ich formulierte schöne Anschreiben, in denen ich um Hilfe bei der Suche nach geeigneten Netzwerken bat, die, egal in welcher Branche, aktiv sind und lokale Prozesse und Strukturen etablieren. Ich fragte nach Interviews und Expert*innenerklärungen und erklärte dabei, dass ich zwar überall suche, aber weit und breit keine Beispiele finden würde, die meinen Kriterien entsprachen. Und bekam überhaupt keine Antwort …
Mein letzter Versuch war daraufhin, bei der Suche nach regionalen Netzwerken das Netzwerk anzuzapfen, von dem ich selber Teil geworden bin – dem UW/H-Alumni-Netzwerk – auch wenn ich „nur“ Orientierungsstudierende bin. Nach Gesprächen mit Domenik Treß, von der neuen Vernetzungsstelle der UW/H, und Sebastian Benkhofer, der auch das Alumni-Management der UW/H verantwortet, fand ich in dem Bereich, der mit Blick auf regionale Vernetzung der wohl am weitesten entwickelte in Deutschland ist, ein spannendes Beispiel: und zwar in der Landwirtschaft. Ich konnte mit dem UW/H-Alumnus Jakob Fels sprechen, der rund um Berlin die Netzwerk-Initiative „Tiny Farms“ ins Leben gerufen hat.
Im Gespräch mit ihm bekam ich endlich etwas Aufwind. Denn er berichtete, dass es in der Landwirtschaft schon immer regionale Zusammenschlüsse und Verbünde gab und gibt – und er genau an dieser Stelle versuchen würde, moderne Formen der regionalen Vernetzung zu etablieren. Sein Modell „Tiny Farms“ will in und um Berlin regionale Mikrofarmen, die Biogemüse und -obst anbauen, zu einer virtuellen Groß-Farm vernetzen, um ökologisch nachhaltig und gleichzeitig konkurrenzfähig agieren zu können. Zwar bekam ich zuerst wieder einen Schreck, als ich von ihm erfuhr, dass auch Tiny Farms bisher nur aus zwei Hofeinheiten besteht. Doch dann wurde mir klar, wie gut gerade das meine bisherigen Erkenntnisse unterstützt – und ich konnte Jakob Fels danach fragen, woran es liegt, dass regionale Netzwerke viel weniger verbreitet und entwickelt sind, als man erwarten würde. Seine Antwort: „Wir sind vor zwei Jahren von dem Problem ausgehend gestartet, dass es hier in Berlin relativ wenig regionales Biogemüse und -obst gibt, obwohl Bio und vor allem Regionalität momentan absolute Megatrends sind. Und wir haben festgestellt, dass es dieses Problem eigentlich in allen Regionen gibt. Überall werden landwirtschaftliche Betriebe immer größer, während immer mehr einzelne kleine Betriebe aufgeben, verkaufen oder schließen müssen. Die Zahl der Bäuer*innen und Fachkräfte, die noch auf kleinen Einheiten arbeiten wollen, sinkt rapide. Gleichzeitig wächst das Interesse an Gartenbau, dem Gärtnern und natürlicher Ernährung bei den Menschen in der Region. Und genau das wollen wir für die Landwirtschaft und den regionalen Anbau nutzbar machen.“

Mit vielen kleinen Tiny Farms will Jakob Fels, zusammen mit seinem Gründungspartner, Tobias Leiber, übersichtliche Einheiten schaffen, die nicht besonders kapitalintensiv sind und ihnen Services bieten, wie Beschaffung, Vertrieb und Organisation geteilter Ressourcen, die sie zusammen günstig, professionell und effizienter machen. „Die Nachfrage ist enorm hoch. Wir haben jede Menge Anfragen nicht nur aus Berlin und Umgebung, sondern beispielsweise auch aus Hamburg, über NRW bis runter nach Süddeutschland. Doch genau da fangen die Probleme der regionalen Vernetzung auch schon an …“
Zwar gibt es, schildert Fels das Kernproblem, viele Anfragen von Menschen, die Tiny Farmer*innen werden wollen, aber nicht genug Menschen für die Unternehmensentwicklung, die beim Aufbau des jungen Start-Ups unterstützen können. „Mit mehr Mitarbeiter*innen, die vor Ort, in den Regionen, die Vernetzung einzelner Akteur*innen betreiben und gemeinsame Infrastrukturen entwickeln, würden wir mit dem Aufbau viel schneller vorankommen.“ Was für die Vernetzung regionaler Akteur*innen gebraucht wird, so wird für mich deutlich, sind Koordinator*innen, die für regionale Cluster und Partner*innen zuständig sind. Und genau das war mir auch bereits schon bei meinen Recherchen als Muster aufgefallen: Alle regionalen Netzwerke, die ich überhaupt gefunden hatte, auch wenn es sie gar nicht mehr gibt, wurden stets von einer vermittelnden, vernetzenden und treibenden Instanz zusammengebracht und ins Leben gerufen. „Unser Ziel“, bestätigt Fels meine These, „sind tatsächlich 1000 Farmen in ganz Deutschland, in Clustern von vier bis 6 Landwirtschaftseinheiten, mit je einem Menschen für das Clustermanagement. Und die müssen wir finden.“
Fels glaubt fest daran, dass Kleinstbetriebe so auch in anderen Branchen und Bereichen zusammen wettbewerbsfähig gegenüber großen, überregionalen Betrieben werden können. „Vor allem in handwerklichen Bereichen lässt sich das Prinzip gut übertragen, sodass alle anderen Services, bis auf eine bestimmte Kerntätigkeit, gemeinsam erledigt werden. Das gibt es meines Wissens nach so integriert noch relativ wenig.“ Und dann könnten sich natürlich auch noch Handwerkende mit Herstellenden vernetzten. Zum Beispiel Handwerksbäckereien mit regionalen Getreidebäuer*innen. „Im Prinzip gilt das für alle, die mit ihren Betrieben unter dem Druck stehen, ihr Geschäftsmodell ausweiten zu müssen, um konkurrenzfähig zu sein und die gleichzeitig in sehr preissensiblen Bereichen unterwegs sind. Sie alle können durch die Vernetzung und Zusammenarbeit in bestimmten Bereichen profitieren.“
Ich bin sehr froh, dass ich nach diesem Gespräch doch zu einer positiveren Erkenntnis kommen durfte. Insbesondere, da ich in regionalen Netzwerken nach wie vor viel Potential sehe. Gerade für die kleinen Akteur*innen bietet die Vernetzung großartige Möglichkeiten, ökologisch tragfähig zu agieren und dabei nicht durch die großen, marktbeherrschenden Konzerne mit ihren internationalen Netzwerken verdrängt zu werden. Egal, wie viele regionale Netzwerke es bei uns schon geben mag – ich denke, es gibt hier noch viel Luft nach oben. Und gerade Menschen, die etwas bewegen und an unserem Wirtschaftssystem und den Strukturen, in denen wir arbeiten und leben, etwas verändern wollen, sollten sich zu Vernetzungsexpert*innen ausbilden – und sich umschauen, wen und was sie zusammenbringen können.

JAKOB FELS

Jakob Fels ist Gründer und Geschäftsführer von Tiny Farms und verantwortet die Bereiche Finanzen, Personal und Vertrieb. Jakob hat an der UW/H und an der Viadrina Universität Wirtschaftswissenschaften und Politik studiert. Seit gut zehn Jahren arbeitet er in der Lebensmittelbranche. Als Wissenschaftler hat er daran geforscht, wie sich ernährungsbedingte Treibhausgasemissionen einheitlich erfassen lassen. Er war Qualitätsbeauftragter bei einem großen Bio-Gemüsehändler und hat die letzten zehn Jahre als Unternehmensberater für Nachhaltigkeit und Nachhaltigkeitsmanagement in der Lebensmittelbranche gearbeitet.
tinyfarms.de

GINA GRAEFE

Gina Graefe ist studentisches Redaktionsmitglied des WITTEN LAB Magazins und war im Wintersemester 2020/21 Orientierungstudierende der UW/H.

Gina Graefe schlägt mit ihrem Beitrag auch die Brücke in die vielfältigen Angebote des Orientierungsstudiums an der UW/H. Das Redaktionsseminar, in dessen Rahmen der Text entstanden ist, ist nur eine von vielfältigen Möglichkeiten des selbstentdeckenden Studierens. Mehr Informationen hier:
uni-wh.de/studium/studiengaenge/orientierungsstudium