Das geht nicht mehr weg...!

Text von Sebastian Benkhofer und Johannes Wiek, Interview mit Manuel Dolderer

VON WEM KÖNNEN WIR ETWAS ÜBER DIGITALES LERNEN LERNEN?
Warum nicht von unseren ehemaligen Studierenden? Manuel Dolderer, Alumnus unserer Universität, ist mitten in diesem Zukunftsfeld aktiv. Als Mitgründer und Präsident der CODE University, an der die digitalen Pioniere von morgen ausgebil-det werden. Mit ihm haben wir darüber gesprochen, welche Fähigkeiten wir für eine digitalisierte Zukunft brauchen – und wie sich Bildungsinstitutionen aufstellen sollten, damit solche Fähigkeiten über-haupt entstehen können.

An der CODE University lernen gerade junge Menschen, um die Zukunft der digitalen Welt zu gestalten. Was sollten wir über das Lernen für die Digitalisierung lernen?

Da gibt es drei Bereiche. Der erste ist: Lernen mit digitalen Medien. Zoom, MOOCs, Youtube-Videos, digitale Whiteboards, Vimeo und Co. … Interessant – aber leider nicht der Kern. Der zweite ist schon wichtiger: Lernen über Digitalisierung. Was muss ich von der Digitalisierung verstehen, um mit digitalen Technologien in Zukunft nicht nur umgehen zu können – also nicht nur das Produkt zu sein –, sondern Mitgestalter zu werden und dabei die Risiken und Gefahren zu kennen. Aber entscheidend ist der dritte Bereich: Die Entwicklung von Fähigkeiten, die wir für eine digitalisierte Zukunft brauchen. Was wissen wir eigentlich über diese Zukunft? Und welche Zielsetzungen für Bildungskonzepte und Projekte können wir daraus ableiten, um Menschen auf so eine Zukunft vorzubereiten?

Wie stellt Ihr Euch an der CODE University die Zukunft vor? 

2016 ist ein Buch von Kevin Kelly erschienen: „The Inevitable“. Für mich eine Blaupause, wie wir über die Zukunft nachdenken sollten. Darin beschreibt er Technologietrends, von denen wir zwar noch nicht im Detail wissen, wie sie sich am Ende auf uns alle auswirken, bei denen wir aber mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen können, dass sie dies maßgeblich tun werden. Wir alle kennen z. B. die Diskussion, wie sich herkömmliche Berufsbilder in Zukunft verändern werden – oder ob es sie überhaupt noch geben wird und welche stattdessen entstehen werden. Aber wir sind in Bildungsinstitutionen meilenweit davon entfernt, daraus Konsequenzen zu ziehen, obwohl die Entwicklungen bereits heute dramatische Wirkungen entfalten. Schon 2011 beschrieb Marc Andreessen in einem Artikel im Wall Street Journal mit dem Titel „Why Software Is Eating The World“, wie Software ganze Industrien revolutionieren, Märkte, Unternehmen und Produkte zerstören und ganz neue schaffen wird. Das ist seither eingetreten. Und in den nächsten 10 Jahren wird es auch um die Hardware gehen, wenn im Internet of Things alles, womit wir uns umgeben, vernetzt sein wird. Und damit haben wir noch nicht über Algorithmen geredet, die noch viel mächtiger werden, als sie es jetzt schon sind. Die sogenannte künstliche Intelligenz, die mit gigantischen Datenmengen nicht nur Vorhersagen treffen wird, sondern auch Entscheidungen, die unser Leben ganz direkt und extrem weitreichend beeinflussen. Schon seit 2014 warnt die amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff vor den Auswirkungen des sogenannten Überwachungskapitalismus. Angefangen bei Google und Facebook hat sich ein inzwischen riesiger Markt entwickelt, der oftmals ohne unser Wissen gigantische Datenmengen über uns sammelt und diese nutzt, um unser Verhalten vorherzusagen und sogar zu beeinflussen. Und das nicht nur in der digitalen Sphäre, sondern auch – wie man am Beispiel Pokémon Go sieht – in der analogen Welt. Aber all dies ist nur ein Vorwort, mit dem ich zeigen will, warum es eine grundsätzlich neue und andere Art des Denkens über Bildung braucht – gerade auch im Bereich der höheren Bildung. Denn die Digitalisierung ist etwas, das nicht mehr weggehen wird. Das geht uns alle an. Keiner kann sich drücken. Aber ich habe den Eindruck, dass sich die meisten Menschen der enormen Auswirkungen auf alles, was wir kennen, noch überhaupt nicht bewusst sind – gerade auch im Bereich der Bildung.

Wie sollten wir uns denn in Universitäten auf diese Veränderungen einstellen? 

Wir sehen auch bei uns an der CODE ganz deutlich, dass es einfach nicht mehr reicht, nur Studiengänge mit Fachinhalten anzubieten und sie mit Praxis und Projekten zu verbinden. Denn Bildung, die wir für eine digitalisierte Welt brauchen, hat nichts mehr mit Fachinhalten einzelner Disziplinen zu tun. Egal, was man werden will. Sondern damit, was ein Mensch braucht, um mit dieser neuen Welt zurechtzukommen, umzugehen und sie, im besten Fall, mit zu gestalten. Dafür braucht es eine andere Geisteshaltung. Wir haben dafür den internen Arbeitstitel Pioneers Mindset. Für uns als Hochschule/Fachhochschule geht es immer weniger um formale Studiengänge, sondern vielmehr um neue Antworten auf die Fragen, wie man das ganze Ökosystem einer Lernumgebung so gestalten kann, dass darin menschliche Fähigkeiten und Eigenschaften, die am Ende ein solches Mindset ausmachen, überhaupt eine Chance haben, zu entstehen.

Was sind das für Fähigkeiten?

Es beginnt letztlich alles mit Neugier. Einer Neugier, aus der Du die Energie schöpfst, dich mit Fragen auseinanderzusetzen und neue Themen zu erarbeiten. Das ist ein fundamentaler Unterschied zu einem Lernen, um eine Klausur zu bestehen oder einen Abschluss zu bekommen. Es geht um ein authentisches Interesse an den Dingen. Das ist eine Geisteshaltung, die es erlaubt, effizient und effektiv zu lernen, dich immer wieder in neue, nächste Dinge einzuarbeiten und dir neue Kompetenzen anzueignen. Das zweite ist die Fähigkeit zu lernen. Wir alle gehen jahrelang durch Bildungseinrichtungen – aber nirgendwo lernst du, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Strategien Lernen eigentlich gelingt. Dabei gibt es neurowissenschaftliche und psychologische Erkenntnisse, wie Lernen funktioniert, die jeder lernen kann – und ohne die es in Zukunft nicht gehen wird. Die dritte Fähigkeit ist Empathie. Nicht, weil sie dich zu einem netten Menschen macht. Sondern weil sie dich befähigt, Probleme anderer Menschen zu erkennen und Lösungen aus ihrer Sicht zu entwickeln. Die vierte Fähigkeit ist kreatives Problemlösen. In Bildungskontexten kriegen wir fast immer nur sauber definierte Probleme vorgesetzt, die wir dann lösen sollen. Aber in der wahren Welt sind Probleme nie sauber definiert. Armut, Hunger, Klimawandel sind als Probleme schwer eindeutig zu beschreiben, weshalb es auch keine klaren Lösungswege gibt. Und wir lernen nicht, mit solchen Problemen umzugehen. Die fünfte ist die Fähigkeit der Zusammenarbeit – weil wir solche Probleme nicht alleine lösen können. Es geht um Kollaboration und Kommunikation, als Grundfähigkeiten, um andere Menschen zu beeinflussen, für Deine Sache zu begeistern und in diversen, interdisziplinären Teams zusammenzuarbeiten. Die sechste Fähigkeit ist ein Grundverständnis digitaler Technologien. Du musst kein*e Tech-Expert*in werden. Aber Du musst Dir neue Technologien erschließen und erkennen, was sie für Deinen Beruf und Deinen Alltag bedeuten. Die siebte Fähigkeit ist Entrepreneurial Spirit. Der fängt mit deinem Selbstvertrauen und dem Selbstbewusstsein an, dass Du etwas verändern und einen Unterschied machen kannst. Und mit dem du dich traust, auch große Probleme anzugehen. Und dann kommt noch die vielleicht wichtigste Fähigkeit. Denn du musst in der Lage sein, aus der Überfülle der Informationen dieser Welt einen Sinn zu schaffen, eine Haltung, um zu Entscheidungen zu kommen – und in die Handlung. Aber nicht nur das. Was du brauchst, ist kritische und moralische Urteilskraft. Und um die zu entwickeln, braucht du ein STUFU. Das ist etwas absolut Wesentliches, was wir von der UW/H mit an die CODE genommen haben.

Dann erklärt doch bitte, was Du damit meinst. 

Wir sehen das immer wieder, wenn wir es mit Leuten zu tun haben, die zu 90 % alle Fähigkeiten haben, die ich gerade aufgeführt habe. Extrem gut ausgebildet, mit exzellenten technologischen Skills, brennender Neugier und Unternehmergeist. Denen aber die 10 % moralischer Kompass und Selbstreflektion fehlen. Die bauen dann eben das nächste Facebook. Was eine großartige unternehmerische Leistung ist. Was aber jemand mit kritischer und moralischer Urteilskraft so nicht bauen würde. Das sehen wir heute an ganz vielen Stellen, wo Menschen ihr professionelles Wissen und ihre kommunikativen Fähigkeiten letztlich für die falsche Sache nutzen. Und das ist dann noch schlimmer, als wenn sie gar keine von diesen Fähigkeiten hätten. Wenn wir Menschen ohne kritische Urteilskraft auf die Gesellschaft loslassen, dann können die ganz schön viel Schaden anrichten. Und die Mittel, die sie dafür nutzen können, sind in einer digitalisierten Zukunft sehr mächtig. Das muss einem immer klar sein, wenn man sich heute mit Bildung für die Zukunft beschäftigt.

Kevin Kelly „The Inevitable“
kk.org/books/the-inevitable/

Marc Andreessen „Why software is eating the world“
a16z.com/2011/08/20/why-software-is-eating-the-world/

Shoshana Zuboff „The Age of Surveillance Capitalism“
shoshanazuboff.com/book/about/

Ian Leslie: „Curious – The Desire to Know and Why Your Future Depends on It“
www.quercusbooks.co.uk/titles/ian-leslie/curious/9781782064961/

Pooja K. Agarwal, Patrice M. Bain: „Powerful Teaching – Unleash the Science of Learning“
www.powerfulteaching.org/