Andreas Lingg schafft neue Verbindungen zwischen unserer Universität, der Stadt Witten und den Menschen, die in ihr leben. In neuen Lernfeldern, die soziale und kulturelle Grenzen überwinden und neue gemeinsame Handlungsräume eröffnen sollen.

Die Rolle der Universität hat sich in den letzten Jahrzehnten merklich gewandelt. Die wachsende Anzahl an Studierenden verändert sie in eine Institution, die von zentraler Bedeutung für das Gelingen unserer Demokratie und unseres Gemeinwesens ist. Grund genug, um über neue akademische Aufgabenbereiche und Leitbilder zu sprechen.

Akademisches Wissen war bis Mitte des 20. Jahrhunderts für einen verhältnismäßig kleinen Personenkreis als Thema und Gegenstand noch außerordentlich exklusiv. Über die letzten Jahrzehnte hat sich diese Situation grundlegend verändert. Unter dem Vorzeichen von „Wissensgesellschaft“ oder „Wissensökonomie“ wurde in Deutschland, wie in den meisten anderen Industrieländern auch, die Akademikerquote schrittweise angehoben. Seit wenigen Jahren verzeichnen wir hierzulande mehr Studienanfänger*innen als neue Auszubildende. Mehr Kinder gehen auf die Gymnasien, es wurden weitere Hochschulen gebaut – und neue Leitbilder der Universitäten entwickelt. Noch im Nordrhein-Westfälischen Hochschulgesetz der 1970er Jahre stand – neben den Kernaufgaben von wissenschaftlicher Lehre und Forschung – die Berufsausbildung nur in einem Nebensatz. Heute dominiert der Blick auf den Arbeitsmarkt den entsprechenden Paragraphen. Es ist nun beispielsweise auch die Rede vom angestrebten Wissens- und Technologietransfer, der Förderung von beruflicher Selbständigkeit oder auch der Unterstützung bei Unternehmensgründungen. Bildung gilt heute als Kapital, sowohl auf individueller als auch kollektiver Ebene. Diese Perspektivverschiebung ist prinzipiell nicht verwerflich. Problematisch ist vielmehr ihre Einseitigkeit beziehungsweise die Abwesenheit weiterer, ergänzender neuer universitärer Vorstellungen. Es ist vielfach belegt, dass in den westlichen Ländern ökonomische und gesellschaftliche Teilhabe und akademische Teilhabe zunehmend zusammenfallen. Höhere Löhne, bessere Karriereaussichten – die Universität der Gegen-wart, die in Deutschland inzwischen etwa dreißig Prozent eines Jahrgangs in sich aufnimmt, hat sich durch ihre Größe und Bedeutung in eine äußerst ambivalente Rolle gebracht: in die Rolle einer Agentur gleichzeitiger massenhafter In- und Exklusion.

MASSENHAFTE IN- UND EXKLUSION

Es zeichnet sich bereits ab, dass die Konzentration auf nur einen Bildungsweg als privilegierter Zugang zu den gehobenen Positionen in Wirtschaft und Politik mit schwerwiegenden gesellschaftlichen Folgen einhergeht. Am prägnantesten zeigt sich das in den USA – ein Land, das sich immer stärker entlang der Unterscheidung von Akademiker*innen und Nicht-Akademiker*innen gruppiert. Die damit verbundene Bruchlinie durchläuft sowohl die politische Landschaft – beispielsweise bei der Aufteilung der Wählerschaft in immer unversöhnlichere demokratische respektive republikanische Positionen – als auch andere Bereiche, wie der der Gesundheit, wo sich seit den 1990er Jahren unter Nicht-Akademiker*innen mittleren Alters ein signifikanter Anstieg von Todesfällen durch Suizid aber auch Drogen- und Alkoholmissbrauch abzeichnet. Das amerikanische Hochschulwesen trägt seinen Teil zu diesem Problem bei. Die hohen Kosten für das Studium, die Rolle von Spenden aber auch Selektionsverfahren wie SAT-Tests haben über die Jahre das familiäre Vermögen zu einer immer entscheidenderen Zugangs- und Erfolgsvariable werden lassen. In den Ivy League Universitäten kommen durchschnittlich über zwei Drittel der Studierenden aus den zwanzig Prozent der reichsten Haushalte; in Princeton und Yale studieren sogar mehr Studierende aus den höheren und höchsten Einkommensschichten als aus den unteren sechzig Prozent der landesweiten Einkommen. Auch hier, und gerade in letztgenannten Fällen, geht die In- beziehungsweise Exklusionsleistung mit erheblichen Konsequenzen für die gesamte Gesellschaft einher. Wer in diese Netzwerke der Wenigen Eingang findet, hat statistisch nicht nur ein deutlich höheres Einkommen, sondern auch beste Aussichten auf die Spitzenpositionen des Landes.

AUF DEM WEG ZUR VERNETZTEN UNIVERSITÄT

Auch in Deutschland sind diese Trends längst angekommen. Man denke nur an die verschwindend geringe Quote von Nicht-Akademiker*innen im Bundestag. Verbindet man dieses Verhältnis noch mit der Tatsache, dass es hierzulande nur etwa ein Viertel aller Kinder aus Nicht-Akademiker*innen-Haushalten an die Hochschulen schaffen, erhält man ein handfestes Repräsentations- und Demokratieproblem. Politikverdrossenheit und geringe Wahlbeteiligung in den entsprechenden Milieus sind eine naheliegende Folge. Vor diesem Hintergrund scheint es wichtig, dass sich die Universitäten mehr als bislang ihrer demokratischen und zivilgesellschaftlichen Verantwortung stellen. Erste Projekte dazu gibt es bereits. Gerade das Ruhrgebiet und dort etwa die Universität Witten/Herdecke, die Ruhr-Universität Bochum oder die Universität Duisburg-Essen haben mit einem breiten Angebot von Formaten – vom Initiativlabor über Service Learning, Talentscouts und schulischen Förderangeboten – beachtliche Schritte gemacht. Auch theoretische Konzepte sind in der Entwicklung. Seit einigen Jahren wird in der Bildungsforschung diesbezüglich insbesondere das Thema der „Third Mission“ diskutiert. Neben den traditionellen Aufgaben von Forschung und Lehre, werden hier neue Bereiche für die Hochschulen erschlossen – diese reichen von der „unternehmerischen Universität“ über den Aufbau regionaler Innovationsnetzwerke bis hin zur Förderung von Nachhaltigkeit und sozialem Engagement. Man hat damit ein reichlich diffuses Feld geschaffen. Es lohnen weitere Differenzierungen – darunter der gesonderte Fokus auf die Universität als zivilgesellschaftlicher Akteur. Die Universität von morgen hätte in diesem Sinne nicht nur eine Vorstellung ihrer selbst als forschende, lehrende und wertschöpfende, sondern auch, in Anlehnung an einen Begriff der Philosophin Danielle Allen, als vernetzende Institution. Im Kontext stark fragmentierter Gesellschaften ist Vernetzung, ist die Pflege von, wie sie sagt, „Brücken“ über demographische und andere Bruchstellen hinweg eine zentrale Voraussetzung für die Vitalität von Demokratie und Gemeinwesen. Ob jung oder alt, ländlich oder städtisch, arm oder reich, zugewandert oder nicht, angestellt oder selbstständig, Ausbildung oder Studium, Frau, Mann oder Divers – damit das demokratische Miteinander gelingen, damit politische Debatten und Diskurse gemeinsame Wege finden können, braucht es geteilte Erfahrungen, Bindungen, Wissenslagen. Genau hier schließt die Verantwortung der Universitäten an. Sie werden zwar bis auf Weiteres selektiv bleiben müssen – sie haben jedoch die Chance, durch Offenheit, durch den Willen, verschiedenste gesellschaftliche Wirklichkeit zu anerkannten und erlebbaren Elementen ihrer Lehr- und Wissenschaftskultur zu machen, einen erheblichen Beitrag für die Dichte, Intensität und damit Stärke der demokratischen Kultur zu leisten.

Zu Fragen der Bildungsgerechtigkeit in Deutschland: Aladin El-Mafaalani: Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft. Köln: Kiepenheuer und Witsch 2020

Zur vernetzten Gesellschaft: Danielle Allen: Politische Gleichheit. Berlin: Suhrkamp Verlag 2020

Zu den gesundheitlichen Implikationen von Bildungsabschlüssen in den USA: Anne Case und Angus Deaton: Deaths of Despair and the Future of Capitalism. Princeton/Oxford: Princeton University Press 2020

Zur Verbindung von Familienvermögen und Universitätskarriere in den USA: Michael J. Sandel: The Tyranny of Merit. What’s Become of the Common Good?, London: Penguin Books 2020

ANDREAS FRIEDOLIN LINGG

Dr. Andreas Lingg ist Wirtschaftsphilosoph und -historiker. Wissenschaftlicher Mitarbeiter des Zentrums Studium Fundamentale (AT) und der Seniorprofessur für Wirtschaft und Philosophie der Universität Witten/Herdecke. Er ist Initiator und Moderator von Projekt Demokratie des WittenLab Zukunftslabor Studium Fundamentale (AT), das sich, im Rahmen von Workshops, Seminaren sowie einer öffentlichen digitalen Lesungsreihe, diesen Fragen widmet:

Wie wollen wir gemeinsam Leben? Und welche Aufgabe kommt dabei der Universität zu?

Mehr zu diesem Diskurs zu Gegenwart und Zukunft des gesellschaftlichen Miteinanders an der UW/H hier:
uni-wh.de/zentrum-studium-fundamentale/oeffentliche-vortraege