Overview Effect

Text von Johannes Wiek

Eugene Cernan war als letzter Mensch auf dem Mond. Am 19. Dezember 1972 verließ er als Mitglied einer insgesamt elfköpfigen Crew des elften bemannten Flugs des Apollo-Programms unseren Erdtrabanten. Nicht ohne seine Gedanken beim Blick auf den Heimatplaneten der Menschheit zu beschreiben: „That’s humanity, love, feeling and thought. You don’t see the barriers of color or religion and politics that divide this world. You wonder, if you could get everyone in the world up here, wouldn’t they have a different feeling — a new perspective?“

„The thing that really surprised me was that [the Earth] projected an air of fragility. And why, I don’t know. I don’t know to this day. I had a feeling it’s tiny, it’s shiny, it’s beautiful, it’s home, and it’s fragile.“
Michael Collins, Astronaut, Apollo-11-Mission

Mit diesem Perspektivwechsel war Cernan nicht allein. Dem Journalisten und Weltraumenthusiasten Frank White war aufgefallen, dass viele Astronaut*innen nach ihrer Rückkehr von einem besonderen Erlebnis und einem weitreichenden, in manchen Fällen dramatischen Bewusstseinswandel berichteten, den der Blick aus dem Weltraum auf unsere Erdkugel in ihnen ausgelöst hatte. Er begann, diese Eindrücke zu sammeln, und veröffentlichte 1987 das Buch, das einen Begriff prägen sollte, der heute zunehmend an Bedeutung gewinnt:
„The Overview Effect.“

„It’s a perspective of the world that allows us, hopefully, to make better collective, global decisions about what’s happening – less jealous, narrow, local decisions. And we need that type of thinking if we’re truly going to have this many people and this standard of living for the foreseeable future.“
Chris Hadfield, Kommandant der Internationalen Raumstation ISS 2010

Seither verbreitet White die Botschaft. Doch für eine lange Zeit schien niemand sie ernst zu nehmen. Auch wenn viele der mittlerweile fast 550 Menschen zahlreicher Nationalitäten, die unsere Erde als blaue Kugel vom Weltraum aus sehen konnten – vor allem auch über lange Zeiträume an Bord der internationalen Raumstation ISS – den teilweise dramatischen Effekt auf die eigene Weltsicht bestätigen. Am ehesten ist er wohl als ein tief empfundenes Gefühl der Verbundenheit aller Menschen und Lebewesen zu beschreiben. Vereint mit einem starken instinktiven Drang, diesen fragilen, lebendigen Zusammenhang mit allen Mitteln zu beschützen. Die Aussagen von Apollo 14 Astronaut Edgar Mitchell spiegeln diesen spontanen Beschützer*inneninstinkt auch gegenüber jenen, die das Wohl der Menschheit und des Planeten auf Spiel setzen oder bedrohen:

„You develop an instant global consciousness, a people orientation, an intense dissatisfaction with the state of the world, and a compulsion to do something about it. From out there on the moon, international politics look so petty. You want to grab a politician by the scruff of the neck and drag him a quarter of a million miles out and say, ‚Look at that, you son of a bitch!‘“

Sein Wunsch könnte sich schon bald erfüllen. Kurz vor Drucklegung dieses Heftes verkündete Jeff Bezos, Amazon-Gründer und einer der reichsten Menschen der Welt, dass er selbst an Bord des ersten bemannten Fluges der New Shepard sein will. Einem Raketenflugzeug, das seine Weltraumfirma Blue Origin herstellt, und das am 20. Juli 2021 starten und in einer Höhe von 100 Kilometern für kurze Zeit die sogenannte Kármán-Linie überschreiten soll, die die Grenze zwischen Erdatmosphäre und Weltraum markiert. Vier Gäste können zudem an Bord sein. Der erste Passagier*innenplatz wurde innerhalb kürzester Zeit durch ein anonymes Gebot für 28 Millionen Dollar ersteigert. Und auch Elon Musk hat unlängst den Start seiner sehr viel geräumigeren Passagier*innenrakete Starship für 2023 angekündigt.

„The Earth was small, light blue, and so touchingly alone, our home that must be defended like a holy relic.“
Alexei Leonov, Kosmonaut, der erste Mensch, der sein Raumschiff verließ und lediglich mit einer Leine gesichert im Weltraum schwebte 

Es bleibt also zu hoffen, dass der Wunsch von Astronaut Edgar Mitchell wahr wird und die richtigen Menschen, die den Overview Effekt am dringendsten brauchen und zu unser aller Wohl erleben sollten, in die Reise investieren. Ansonsten könnten wir versuchen, Geldmittel zusammenzulegen, um manchen Menschen, wenn wir sie schon nicht auf den Mond schießen können, die Reise in den Weltraum zu finanzieren.

!!!

Frank White: The Overview Effect – Space Exploration and Human Evolution. Reston (VA): Houghton-Mifflin 2014 (Erstauflage 1987)

Blue Marble (englisch für Blaue Murmel) ist ein bekanntes Foto der Erde, das von Harrison Schmitt, Mitglied der Besatzung von Apollo 17 im Jahr 1972 aus einer Entfernung von rund 29.000 km aufgenommen wurde. Das Blue-Marble-Bild wurde nach seiner Veröffentlichung durch zahlreiche Umweltschutzbewegungen sehr populär und gilt als Versinnbildlichung der Verletzbarkeit und Einzigartigkeit des Erdplaneten. 

„If somebody’d said before the flight, ‚Are you going to get carried away looking at the Earth from the moon?‘ I would have said, ‚No, no way.‘ But yet, when I first looked back at the Earth, standing on the moon, I cried.“
Alan Shepard, Astronaut, erster Amerikaner im Weltraum und fünfter Mensch auf dem Mond

JOHANNES WIEK

Johannes Wiek, Alumnus der UW/H, ist Journalist, strategischer Kommunikationsberater und Redaktionsleiter des WITTEN LAB Magazins.