Über Netzwerkbegriffe und -typen

Text von Guido Möllering

Ich war dort; ich habe ihn gesehen: den Netzwerkdschungel. Ich war wissenschaftlicher Mitarbeiter und vor knapp 20 Jahren an der FU Berlin an einem Forschungsprojekt unter der Leitung des Management-Professors und Pioniers der Netzwerkforschung in Deutschland Jörg Sydow beteiligt. In dem Projekt ging es um das Thema Kompetenzentwicklung mit besonderem Fokus darauf, ob und wie sie in Netzwerken erfolgt. So kam unweigerlich die Frage auf: Was ist eigentlich ein Netzwerk? Was für Netzwerke gibt es denn? Also, auf in den Dschungel!
Schon der Duden bietet 16 (Unter-)Bedeutungen von „Netz“ an. Im Kern: Ein Gebilde aus geknüpften Verbindungen. Schnüre etwa werden zu einem Netz, wenn man sie verknotet. Ein Netz braucht also Knoten und die Verbindungen („Kanten“) zwischen ihnen. Ab drei Knoten wird es interessant.
Aber: Bei einem Fischer- oder Fußballnetz existieren die Knoten ja eigentlich gar nicht eigenständig, sondern nur die Schnüre, die halt an bestimmten Stellen verknotet sind. Bei den Netz(werk)en, über die wir meist reden, scheint es gerade anders zu sein. Da gibt es doch erstmal die Personen, Maschinen, Städte, Daten et cetera, die verbunden werden. Sie bilden das Netzwerk – nicht umgekehrt! Oder etwa doch? Oder beides?
Jedenfalls machen die Kanten etwas mit den Knoten, geben ihnen ihre Position und Möglichkeiten für Verbindungen zu anderen Knoten. Wie ‚zentral‘ zum Beispiel ein Knoten ist, errechnet sich netzwerkanalytisch aus seinen Verknüpfungen. Nicht aus anderen Eigenschaften des Knotens. Es braucht dann allerdings zusätzliche Erklärungen, warum manche Knoten stärker verknüpft sind als andere, zum Beispiel weil an ihnen wichtige Ressourcen vorhanden sind. Das wiederum kann dynamisch selbstverstärkend wirken: mehr Beziehungen, noch mehr Ressourcen.
Bleiben wir noch einen kurzen Augenblick bei dieser strukturellen Betrachtung, bevor es in den eigentlichen Netzwerkdschungel geht. Man kann sich Netze sozusagen aus der Sicht des Knotens anschauen („Mit wem bin ich verbunden?“) oder aber quasi von außen als Beobachter alle Knoten und Verbindungen im Blick haben („Wer ist mit wem verbunden?“). Hierfür hat die Netzwerkanalyse ungemein hilfreiche Berechnungs- und Visualisierungsmöglichkeiten hervorgebracht.

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Ein Netz braucht also
Knoten und die Verbindungen
zwischen ihnen.
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Die „Dichte“ eines Netzwerkes zum Beispiel setzt die Anzahl aller theoretisch möglichen Verbindungen zwischen den vorhandenen Knoten ins Verhältnis zu den tatsächlich vorhandenen Beziehungen. Je mehr vorhanden sind, desto dichter. Es gibt also einerseits eher dichte und andererseits eher lose Netzwerke.
Damit komme ich zu der typologischen Betrachtung, die uns damals in den Netzwerkdschungel hinein- aber auch wieder her-ausgeführt und das Material für ein kleines Buch geliefert hat (Sydow et al. 2003). Es begann mit einer Sammlung, etwa so wie in der Botanik. Mit Jörg Sydow, der schon in dem Schlüsselwerk „Strategische Netzwerke“ (1992) angefangen hatte, Netzwerkformen zu sortieren, haben Stephan Duschek, Markus Romentsch und ich einfach alle möglichen Merkmale, Dimensionen, Beschreibungen von Netzwerken, die uns zum Beispiel in der Literatur, in Forschungsprojekten oder bei Expertengesprächen begegnet sind, aufgelistet. Was für ein Spaß!
Nur wurde die Liste immer länger. Am Ende waren es mehr als hundert Typologien sozialer und im Kontext von Organisationsforschung relevanter Netzwerke. Auf die einfache Frage „Was für Netzwerke gibt es denn?“ gab es also keine einfache Antwort, sondern den besagten Wildwuchs.
Immerhin konnten wir Basiskategorien finden, mit denen man sich einen gewissen Überblick verschaffen kann: Prozess (Wie?), Inhalt (Was?) und Funktion (Wozu?) der Netzwerke stellten sich als Bezugspunkte der Typenbildung heraus. Stellen Sie sich ein Netzwerk vor, das Sie gut kennen, und sagen Sie uns, wie in ihm die Beziehungen geknüpft werden, was in ihm passiert, und welche Effekte es hat. Das Vokabular für diese Beschreibungen könnten Sie ad hoc entwickeln, oder aber Sie lassen sich von einem kurzen Streifzug durch unseren Dschungel inspirieren:

EXPLORATIVE VS. EXPLOITATIVE NETZWERKE:

Dies ist eine graduelle, mehr-oder-weniger Unterscheidung, die aber eine ganz wichtige Orientierung für die beteiligten „Knoten“ gibt. Soll das Netzwerk etwas Neues entdecken, ausprobieren, entwickeln? Oder soll es vorhandenes bestmöglich (aus-)nutzen? Beides kann überaus sinnvoll und auch legitim sein, hat aber klare Auswirkungen zum Bei-spiel darauf, wer mitmacht, worüber kommuniziert wird, wie konkret die Erwartungen formuliert werden.

HIERARCHISCHE VERSUS HETERARCHISCHE NETZWERKE:

Hierbei ist interessant, dass man sich Netzwerke ja prinzipiell eher heterarchisch und „auf Augenhöhe“ vorstellt, es aber in realen Netzwerken durchaus Führungsansprüche und Machtgefälle gibt. Letzteres birgt Konfliktpotenzial, kann aber auch sehr hilfreich sein, damit das Netzwerk etwas erreicht. Ob dem so ist und ob alle damit zufrieden sind, sollte man im jeweiligen Netzwerk reflektieren.

STABILE VS. DYNAMISCHE NETZWERKE:

Die Gefahr der Instabilität besteht in Netzwerken immer, jedoch ist auch dies graduell unterschiedlich und mehr oder weniger gewollt. Die Unterscheidung bezieht sich hier vor allem auf die Mitgliedschaft, die sich in einigen Netzwerken über die Zeit kaum verändert, während es in anderen wie in einem Taubenschlag zugeht. Die Frage in der Praxis ist, wie man zum Beispiel den Beitritt ins Netzwerk erleichtern oder erschweren kann.

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Die Gefahr der Instabilität besteht in Netzwerken
immer, jedoch ist auch dies graduell unterschiedlich
und mehr oder weniger gewollt.
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Wer sich also im Dschungel der Netzwerke orientieren will, kann mitnehmen, dass womöglich die Beziehungen wichtiger sind als die Knoten und dass man zumindest teils beeinflussbare Spielräume bei der Art der Ziele, Führung und Dynamik von Netzwerken hat. Wenn man Teil des Geschehens mitten im Dschungel ist, kann man das freilich nicht gut durchschauen. Aus dem analytischen Hubschrauber wiederum fällt es schwer, das, was man in einem Netzwerk sieht, zu erklären. Der Dschungel bleibt mysteriös…

Jörg Sydow: Strategische Netzwerke
Wiesbaden: Gabler 1992

springer.com/de/book/9783409139472

Jörg Sydow/Stephan Duschek/Guido Möllering/Markus Rometsch: Kompetenzentwicklung in Netzwerken. Eine typologische Studie Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 2003
springer.com/de/book/9783531140919

GUIDO MÖLLERING

Prof. Dr. Guido Möllering vom Reinhard-Mohn-Institut für Unternehmensführung der UW/H war schon als Doktorand in Cambridge und Habilitand an der Freien Universität Berlin dem Thema Netzwerke verfallen. An der UW/H lehrt er dazu die Master-Studiengang-Module „Governance“ sowie „International Alliances and Networks“ und bringt seine Netzwerkperspektiven in den neuen WITTEN MBA mit ein.