HANNA GOTTSCHALK

„PERSÖNLICHER MEETINGRAUM”

Das letzte Semester war anders als jedes Semester zuvor. 2020 wurde die digitale Lehre für uns zum neuen Alltag.
Mit Kaffee oder Tee wurde es sich auf dem eigenen Sofa, Stuhl oder Bett bequem gemacht. Dann wurde der Zoomlink ge­öffnet, im Hintergrund waren schon einige Namen zu sehen. Die Verbindung zum Audio wurde hergestellt und das Bild wurde freigegeben. In jedem meiner Seminare war auch ich dabei. In einem kleinen Rechteck am oberen linken Bildschirmrand.
Ich konnte mich sehen, als Teil der Gruppe, als Person im digitalen Raum. Was im Laufe des Semesters zur Gewohnheit wurde, war zu Beginn noch ungewohnt. Ich fühlte mich beobachtet. Ich wusste, dass ich gesehen werde, weil ich mich sah.
Zoom wendet einen kleinen Trick an. Die Videos der anderen werden mir so angezeigt, als wäre ich ihnen gegenüber, aber mein eigenes Video wird gespiegelt. Davon sind wir nicht irritiert. Ob im Badezimmerspiegel oder im Fenster der Bahn: Wir sind daran gewöhnt unser Spiegelbild zu betrachten. Aber wenn der Spiegeleffekt in Zoom ab­geschaltet ist, sehen wir uns plötzlich so, wie uns die anderen sehen.
Wenn das Spiegeln – als Mittel des Reflektierens – eines der wichtigsten Instrumente des Philosophierens ist, welche Funktion hat dann das Video, das wir in Echtzeit von uns selbst sehen können? Diese Frage stellte sich Vilém Flusser, Kommunikations­philosoph und Medientheoretiker, schon in seiner Vorlesung “Instant Philosophy”, die er 1991 an der Ruhr-Universität Bochum hielt.
Darin beschrieb er eine analoge Videoinstallation, einen sogenannten „Closed Circuit“ im Pariser Quatier Latin, Anfang der 1970er Jahre. Bei diesem Experiment gaben aufgestellte Monitore in Echtzeit wieder, was im Stadtteil gefilmt wurde, und die Bewohner*innen konnten sich selbst erblicken und beobachten. Es war für sie ein erstaunliches Erlebnis telepräsent zu sein, denn bis zum Vertrieb erschwinglicher und tragbarer Videokameras war der Zugang zu Videotechnik selten und was auf Bildschirmen zu sehen war, wurde von den Fernsehsendern bestimmt.
Aus künstlerisch explorativer Neugier ver­wendeten viele Videomacher*innen dieser Zeit einen „Closed Circuit“ in ihren Werken. Sie entdeckten in den elektro-nischen Medien die Möglichkeiten der Re­flexion ihrer Lebenswelt des 20. Jahr­hunderts und konfrontierten die Betrachter*innen mit ihren eigenen, ungewohnten, elektronischen Abbildern. Damals hat niemand gewusst, dass wir uns alle ein­mal in dieser Installation befinden werden, wenn wir online miteinander lernen.
Und vielleicht ist jeder Zoom-Call auch heu­te noch ein philosophisch künstlerisches Selbstexperiment?
Meine Videoarbeit „Persönlicher Meetingraum“ spielt mit den Möglichkeiten der Selbstbegegnung im digitalen Raum.

Vilém Flusser: „Video: Instant Philosophy“, in: Silvia Wagnermaier/Siegfried Zielinski (Hg.): Vilém Flusser. Kommunikologie weiter denken. Die Bochumer Vorlesungen (1991), Frankfurt a. M: Fischer Verlag 2009, S. 179-189

Siehe Installation „Wipe Cycle“ (1969) von Frank Gillette und Ira Schneider:
zkm.de/de/werk/wipe-cycle [18.08.2020]

Meine Videoarbeit „Persönlicher Meetingraum“ spielt mit den Möglichkeiten der Selbstbegegnung im digitalen Raum.

Diesen Artikel findet ihr auf Seite 48 in folgender PDF-Datei (Seite 90/91 im Heft):
https://www.wittenlab.de/wp-content/uploads/2020/12/201123_UniWitten_GESAMT_Ansicht_Doppelseiten.pdf