Kollektives Trauma

Verbunden über Generationen

Interview Sebastian Benkhofer, Johannes Wiek mit Thomas Hübl

Thomas Hübl ist sich sicher, dass viele der unbearbeiteten Herausforderungen unserer Zeit erst gelöst werden können, wenn wir – als Individuen und Gesellschaften – die Wirkungsweisen und Auswirkungen kollektiver Traumata verstehen und ins Bewusstsein nehmen. Darüber wollten wir mehr erfahren…

WITTEN LAB: Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit Traumata als gesellschaftlichem Phänomen zu beschäftigen?

Thomas Hübl: Angefangen hat das mit meinem Blick auf das Leben und die Gesellschaft in den beiden Ländern, in denen ich lebe – Deutschland und Israel. Während ich mit meiner Frau in Berlin gelebt habe, sind mir immer noch die Folgen einer kollektiven Traumatisierung durch den Zweiten Weltkrieg aufgefallen, die von den Großeltern- und Elterngenerationen bis heute nicht verarbeitet worden sind und unterbewusst weiterwirken. Dabei wurde mir schon sehr früh immer klarer, dass Trauma nicht nur etwas Individuelles ist, sondern etwas Kollektives, das sich durch das ganze Leben von Menschen sowie durch die gesamte Kultur zieht und das über Generationen hinweg sozialgestaltend wirkt. Die Geschichte dieser Menschen ist nicht die Vergangenheit, sondern ihre Geschichte der Traumatisierung hat sich in Bewusstseinsstrukturen gegossen, die jetzt gelebt werden.

„Trauma durchflutet unsere Kultur und sickert in die Kultur, die uns beeinflusst. Es ist wie der Permafrost unseres sozialen Gefüges.“

Als wir nach Israel zurückmussten, wurden diese Zusammenhänge für mich in ihrer Aktualität noch deutlicher. Meine Frau ist Professorin für Kunst und in Israel sehr prominent. Ihr Bruder wurde von der Hamas gekidnappt und war drei Monate vermisst. Das ganze Land hat ihn gesucht, bevor er tot aufgefunden wurde. Und das ist nur eines von unzähligen Beispielen einer kollektiven Traumatisierung. Denn auch Israels Geschichte, mit all ihren Kriegen, ist eine Geschichte kollektiver Traumata. Und in deren Folge gibt es starke Radikalisierungsbewegungen, die aufgrund ihrer Traumatisierung gar nicht möchten, dass sich Frieden ergibt. Das hat meine Frau und mich zu Aktivisten für den Frieden gemacht. Und deshalb haben wir das Pocket-Projekt gegründet, dessen Ziel es ist, in Israel eine landesweite Kampagne zur Trauma-Aufklärung und -Information zu etablieren. In der Politik, Bildung, Medizin, der Armee – damit das Unbewusste der kollektiven Traumata in eine Kollektivkompetenz umgewandelt wird. Denn wenn man ein paar Dinge über die Wirkungsweise eines Traumas weiß, kann allein schon das Leuten helfen.

Was ist denn kollektives Trauma?

Die meisten Menschen sind es gewohnt, bei dem Schlimmen, das uns oder anderen Menschen passiert, von einem Trauma zu sprechen. Sei es ein Kriegserlebnis, Missbrauch, ein Autounfall… Also einem Erlebnis der totalen Überforderung. Aber eigentlich ist das Trauma gerade das, was nach der Überforderung übrigbleibt. Menschen sind in der Lage, dieses Erleben der Überforderung von ihrem Bewusstsein abzuspalten und dadurch ruhig zu stellen – es quasi einzufrieren. Aber das heißt nicht, dass dieser Schaden, diese Verletzung dadurch weg ist. Das, was übrigbleibt, wirkt auf der individuellen Ebene genauso weiter wie auf der kollektiven. Wie nicht verheilte Wunden, die chronisch unsere Emotionen, unseren Geist und unsere Körper beeinflussen, auch dann, wenn wir sie nicht spüren oder ihren Schmerz unterdrücken. Und wir werden nicht nur von Traumata beeinflusst, die wir selbst erlebt haben, sondern wir werden als Menschen in kollektive Traumata hineingeboren. Trauma durchflutet unsere Kultur und sickert in die Kultur, die uns beeinflusst. Es ist wie der Permafrost unseres sozialen Gefüges.

Wie können wir uns die Auswirkungen kollektiver Traumata vorstellen?

Traumata haben die Eigenschaft, den Schmerz und die Angst, die von schrecklichen Erlebnissen bleiben, im alltäglichen Leben ruhigzustellen und unmerklich zu machen. Das gilt auf der individuellen Ebene genauso wie auf der kollektiven. Der wirkliche Schmerz im Kollektiv ist immer dort, wo es still ist. Die wirkliche Traumatisierung hat keine Sprache mehr. Sie kann auch nicht um Hilfe rufen. Sie ist total gefroren. Aber diese Ruhigstellung hat einen hohen Preis. Ich vergleiche das immer mit einem Gefrierschrank, in dem wir Dinge tiefkühlen. Wir denken nicht an den Kühlschrank, während wir etwas anderes machen. Aber er verbraucht dauernd Energie, für die wir zahlen müssen. Und nur allzu oft zahlen wir diese Energie auf Kredit. Und wenn es für uns eng wird und wir im Leben Probleme bekommen, können wir uns diesen Energieverbrauch auf Kredit irgendwann nicht mehr leisten. Und dann müssen die nachfolgenden Generationen die Kredite weiterzahlen. In Deutschland liegen nur sehr wenige Generationen zwischen den jungen Menschen und der enormen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs. Und sie zahlen die Kredite immer noch ab. Aber wir kommen als Gesellschaft gerade in die Situation, dass die Dinge, die wir irgendwie kaltgestellt und ruhiggehalten haben, an immer mehr Stellen an die Oberfläche kommen. Und wir geraten in einen ungeheuren Stress, weil wir die gesellschaftlichen und globalen Probleme, die daraus resultieren und von denen alle wissen, dass wir sie lösen müssen, einfach nicht gelöst kriegen. Sei es die soziale Ungleichheit, die Ressourcenausbeutung unseres Planeten oder der Klimawandel.

Wie hängt das miteinander zusammen?

Ein Hauptgrund liegt für mich darin, dass sich Menschen in ihrer Traumatisierung als getrennt erleben – von anderen Menschen genauso wie von der Natur, deren unauflöslicher Teil wir sind. Und dieses Erleben des Getrenntseins führt zu einem enormen Stress und Energieverbrauch. Und das ist genauso mit dem fossilen Treibstoff, den wir in unserer Gesellschaft verbrauchen. Wenn ich mich nicht als verbunden erlebe, mit anderen teile und nur verbrauche, was ich in einer Gemeinschaft wirklich brauche, sondern als isoliert und unverbunden, dann verbrauche ich einfach mehr Ressourcen und lebe nicht wirklich nachhaltig. Selbst dann nicht, wenn ich Nachhaltigkeit intellektuell verstehen kann oder auch aktivistisch für sie eintrete. Und das, was wir da mehr verbrauchen, nenne ich Traumatreibstoff. Hinzu kommt, dass Menschen, die zum Beispiel unter einer traumatischen Bindungsstörung leiden, sich häufig nicht oder weniger gut regulieren können. Auch deshalb haben wir so ein unersättliches Wirtschaftssystem, in dem Menschen nach immer mehr streben, auch wenn das im Gesamtsystem nicht mehr gut reguliert ist. Und wenn wir in unserer Gesellschaft wie auch in unserem Wirtschaftssystem in so einer chronischen Überaktivierung gefangen sind, dann verbrennen wir die Ressourcen des Systems auf allen Ebenen. Und alle stecken in diesem höheren Stresslevel mit drin. Das unterbindet die Selbstheilungsmechanismen unserer Körper und des gesamten Systems, in dem wir alle leben. Irgendwann ist dann die Substanz verbrannt und der Körper und die Gesellschaft werden krank. Das gleiche passiert, glaube ich, auch in der Biosphäre. Eines der brennenden Probleme, in das wir so geraten sind, ist ja gerade der Klimawandel. An dieser Entwicklung können wir nur etwas ändern, wenn wir uns wieder natürlich einordnen und gemeinsam unseren Ressourcenverbrauch anpassen. Doch diesen gesellschaftlichen Wandel werden wir nicht auf den Weg bringen, wenn wir nicht die Traumata in den Blick nehmen, die uns erst in diese Lage gebracht haben.

Wie können wir das denn tun?

Das Problem liegt darin, dass es für einen evolutionären gesellschaftlichen Wandel nicht ausreicht, nur unsere Verhaltensweisen und Gewohnheiten zu verändern oder aktivistisch zu sein, damit andere Menschen dies auch tun. Denn dadurch werden die Traumatisierungen nicht aufgelöst. Im Gegenteil. Das Problem besteht darin, dass ich Widerstand generiere, wenn ich auf Traumatisierungen Druck ausübe. Genau das ist es, was Klimaaktivist*innen erst einmal verstehen müssen: Dass sie gegen Eiswände aus eingefrorenen Traumatisierungen laufen. Und je stärker sie dagegen laufen, umso stärker prallen sie ab, weil das Gegenkräfte erzeugt. Davon werden beide Seiten geschädigt. Die Aktivist*innen werden frustriert – die anderen machen ganz dicht und blockieren umso mehr. Kurz: Gegen die Eiswände zu knallen, macht nur noch mehr Stress im System und weckt mehr Gegendruck.

„Wenn wir nicht lernen, die eigenen Traumata und die Traumata der anderen in den Blick zu nehmen, dann kommen wir nicht weiter.“

Und der Klimawandel ist ja bei weitem nicht die einzige stressverstärkende Krise, mit der wir zu tun bekommen. Einer Pandemie wie durch Covid-19 können wir in den meisten Gesellschaften derzeit nicht begegnen. Das Gleiche gilt für die Flüchtlinge, die sich auf den Weg nach Europa machen. Das alles trifft auf einen enormen traumabedingten Stress, der schon im System ist – und triggert die nächsten Traumata. Dadurch wird alles noch schlimmer. Ich habe dafür ein Bild: Schnee, der in strömendes Wasser fällt, wird zu Wasser. Aber wenn Schneeflocken auf einen vereisten Fluss fallen, dann fangen sie an, sich aufzutürmen. Wenn der Fluss fließt, wird das Neue integriert und zur Erfahrung. Aber wenn der Fluss hart und vereist ist, dann kann das Neue nicht integriert werden, sondern türmt sich immer mehr auf. Und das erleben wir gerade überall in der Gesellschaft.

Wie können wir als Gesellschaft mit kollektiven Traumata besser umgehen?

Um etwas nachhaltig zu bewegen, müssen wir neben dem Aktivismus, der sich hervorragend dafür eignet, Gewohnheiten zu verändern und aufzuklären, schauen, wo die Traumatisierungen liegen, die zu heilen sind. Und diese Heilung braucht Raum und Zeit. Das ist widersprüchlich, weil wir es jetzt eilig haben. Aber auch wenn Probleme unserer Welt drängen: Ich empfehle sehr, dass wir uns erst die Zeit nehmen, unsere Traumata ins Bewusstsein zu holen und zu heilen. Vorher werden alle Lösungsansätze nicht ausreichen.

Auch wenn es schwerfällt und die Hürden hoch sind: Der Schlüssel ist Trauma-Informiertheit und gegenseitige Wahrnehmung. Wenn ich ein Bewusstsein für Traumazusammenhänge entwickle, sehe ich, wo der andere besonders stark reagiert. Denn da ist ja das Trauma: Genau da, wo etwas berührt wird, das als Bedrohung empfunden wird. Aber dafür gibt es viel zu wenig Sensitivität. Es fehlt oft sogar das Bewusstsein dafür, was die eigenen Traumata sind und wodurch sie getriggert werden. Dieses fehlende Bewusstsein und das fehlende Bewusstsein für den anderen führt dazu, dass die Traumata immer fortgesetzt und verstärkt werden. Deswegen kommen wir selbst und die Gesellschaften, in denen wir leben, da nicht raus. Aber wenn man erst einmal diesen anderen Blick auf Traumata hat, dann fängt man an, sie überall zu erkennen. Im Supermarkt an der Kasse; in der Familie; in der Organisation, in der man arbeitet; in den Medien, wenn über Politik, Wirtschaft und alle anderen gesellschaftlichen Themen berichtet wird. Das ist ein guter Anfang.

Im ersten Schritt müssen wir überhaupt erst einmal traumasensitive Umgebungen schaffen, um uns begegnen zu können. Man kann nur durch Beziehungsarbeit eine Brücke schaffen. Aber dann sind wir noch lange nicht bei einer traumaheilenden Umgebung. Dafür müssen wir vor allem erst einmal den Begriff Trauma umdeuten: Raus aus der Negativität, hin zu einer Anerkennung der ungeheuren Intelligenzleistung und Genialität gelingender Traumatisierung in der Situation der Überforderung, die als innere Antwort auf hochgradig überfordernde Einflüsse in unserem Körper und unserem Nervensystem steckt. Denn da geschieht etwas sehr Wertvolles, um uns zu schützen und intakt zu halten. Die entscheidende Frage ist, wie wir im weiteren Verlauf des Lebens und der gesellschaftlichen Entwicklung mit den Folgen umgehen. Die Integration besteht darin, wie ich mich diesen Themen in meinem Leben stelle. Dafür müssen wir anders über Traumata nachdenken, anders darüber sprechen, und sie ins Bewusstsein holen, um sie heilen zu können. Das braucht Zeit. Aber was wir dadurch freisetzen, ist die Energie, die durch Traumatisierungen eingefroren wurde. Die können wir nutzen. Und wenn wir uns Traumatisierungen kollektiv stellen, haben wir eine gesellschaftliche Wandlungskraft.

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Thomas Hübl: Healing Collective Trauma. A Process for Integrating Our Intergenerational and Cultural Wounds. Louiseville (CO): Sounds True Inc. 2020

The Pocket Project explores how collective trauma shapes our lives. Symptoms arise constantly, yet their origin often remains unrecognised and unaddressed. We aim to change this by cultivating trauma-informed conversations and increasing our witnessing capacity. This autumn, the first series of International Labs for the exploration of specific collective fields of trauma is going online.

pocketproject.org/current-projects/international-labs

THOMAS HÜBL

Thomas Hübl ist Gründer der Academy of Inner Science und ist in seiner Arbeit spezialisiert auf Traumforschung und Traumaarbeit. Neben Lehrveranstaltungen an der Harvard Medical School hat er 2016 das Pocket-Projekt gegründet, in dem mittlerweile 23 Teams international aktiv sind.

Thomas Hübls Arbeit zielt auf die Entwicklung eines bewusstes Mitgefühls – dem fundamentalen Ursprung der Verbundenheit zwischen Menschen. Unsere noch junge Verbindung mit ihm ist über Kazuma Matoba entstanden.